Da sitzt er im Hof eines Münchner Hotels und sagt Sätze wie: „Es gibt eine große Schuld in der Welt: den Verlust der Visionen.“ Oder: „Die Menschen müssen sich in den Frieden verlieben.“ Bei anderen würde man das pathetisch finden. Warum aber nicht bei diesem Mann mit dem gestutzten grauen Bart? Bei Andrea Riccardi, dem Geschichtsprofessor aus Rom, der längst nicht mehr 18 ist, wie im Sturm- und Drangjahr 1968, als er in Rom die Basisgemeinde Sant´Egidio gründete? Gut, Riccardi ist charismatisch und charmant. Vor allem aber ist seine Geschichte und die der Gemeinschaft, die von Sonntag an das Internationale Friedenstreffen in München ausrichtet, ungewöhnlich wie kaum eine in der großen, weiten katholischen Kirche.
Riccardis Vater war Banker, fleißig und pragmatisch. Mit 18 wusste der Sohn, dass er so nicht werden wollte. Er las Mao und Marx, doch die Marxisten und Maoisten enttäuschten ihn. Er las die Bibel und fand, dass beides zusammengehören sollte, das Fromme und das Politische. Mit einigen seiner gutbürgerlichen Freunde ging er in die freudlosen Barackenvorstädte, gab Kindern aus aller Welt kostenlos Nachhilfe. Abends trafen sie sich zum Beten, von 1974 an in der Kirche Sant´Egidio in Trastevere. Sie wurden erwachsen, fanden Partner und Berufe, blieben zusammen; Neugierige kamen dazu. Einer hieß Carlo Maria Martini und sollte Kardinal in Mailand werden. Und einer hieß Karol Wojtyla und war da schon Papst Johannes Paul II..
Die kleine Gemeinde war in der großen Welt angekommen; aus den Kontakten zu den örtlichen Christen, Juden, Muslimen, Atheisten war ein internationales Netz geworden. Und aus dem frommen Rebellen Riccardi wurde des Papstes verschwiegener Diplomat. 1982 war er im libanesischen Bürgerkrieg unterwegs, um den Drusenführer Walid Dschumblat nach Rom einzuladen. Soldaten hielten ihn fest, er lernte, was Todesangst ist. Der Lohn der Angst aber war, dass Dschumblat tatsächlich kam und zusagte, dass die Christen, die er vertrieben hatte, zurückkehren durften.
Seitdem geschah immer wieder Weltgeschichte in Trastevere. Hier endete in den Neunzigern der Bürgerkrieg in Mosambik, was als größter Erfolg von Sant´Egidio gilt. Die härteste Niederlage gab es im algerischen Bürgerkrieg: Teilnehmer einer Friedenskonferenz wurden nach ihrer Rückkehr umgebracht. „Manchmal ist es, als wolle man mit einem Wasserglas das Meer leerschöpfen“, sagt Riccardi, „aber: Manchmal klappt das.“ Einmal traf er einen Jungen, der war Kindersoldat. Du bist ein Engel, du kannst nicht sterben, hatten Erwachsene ihm gesagt, deshalb wollte er ein unsterblicher Soldat bleiben. „Du musst ein Soldat des Friedens werden“, sagte ihm Riccardi und brachte den Jungen zur Schule. Das Meer der Gewalt, es trat zurück.
Nie hat Riccardi ein wichtiges Amt innegehabt, trotzdem gehört er zu den wichtigen Persönlichkeiten Europas; 2003 erhielt er den Aachener Karlspreis. Er könne auch autoritär sein, sagen Kritiker, und wisse sehr wohl, wie man auch ohne Amt Einfluss nehmen könne. Na und, kontert Riccardi. Wenn es nur dem Frieden dient.