Gemeinsam für Europa: Hoffnung braucht eine Vision
Konferenz mit Andrea Riccardi, Freitag, 14. Mai 2010
Es ist kein Zufall, dass diese Begegnung in der Osterzeit stattfindet, nach einem Osterfest, bei dem die Christen des Westens und des Ostens am gleichen Tag verkündeten, dass Christus von den Toten auferstanden ist. Dieses Zusammentreffen ist tatsächlich kein Zufall, sondern ein Zeichen, das den Wert der Einheit der Christen deutlich macht. Ostern ist kein Fest, das sich wiederholt, sondern es hat eine eigene, besondere historische Bedeutung. Wir dürfen Ostern nicht beiseite schieben. Wir müssen von unseren orthodoxen Freunden die Wertschätzung von Ostern lernen. Es beeindruckt mich immer wieder, wie sie lautstark ausrufen: Christus ist von den Toten auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden.
Ja, liebe Freunde, unsere Welt braucht dringend das Evangelium der Auferstehung. Es ist ein Bedürfnis nach Leben, das sich laut aus Haiti erhebt, nach dem schrecklichen Erdbeben vom 13. Januar diesen Jahres, das Hunderttausende von Opfern in einem bitterarmen Land gefordert hat. Dieses Erdbeben birgt ein Bedürfnis nach Auferstehung in sich, nach Solidarität, die uns als Europäer zutiefst angeht. Doch wer spricht heute noch von Haiti? Und doch liegt dieses arme Land, in dem kein Staat existiert und das eine sehr harte Geschichte hinter sich hat, noch immer in den Trümmern des Erdbebens...
"Blickt umher und seht, dass die Felder weiß sind, reif zur Ernte" (Joh 4,35). Ich möchte versuchen, umherzublicken und gemeinsam mit euch auf die Felder der Welt zu schauen. Ich möchte es tun im Bewusstsein der meiner begrenzten Erfahrung als europäischer Christ, als Historiker, als Reisender in Sachen der Welt, der durch die Erfahrung der Gemeinschaft Sant'Egidio oft in Berührung mit vielen armen Ländern kommt. Im Unterschied zu vielen Teilen der Welt fällt Europa mit seinem Reichtum an Ressourcen auf. Dazu gehört vor allem der Frieden: das wertvolle Erbe von mehr als 60 Jahren Frieden. In diesen Tagen erinnern wir uns an den 60. Jahrestag des Schuman-Planes, der den Prozess der europäischen Einigung einleitete. Zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts lagen nur 20 Jahre, als 1939 der Krieg zurückkehrte. Als Italiener, der 1950 geboren ist - und damit verrate ich auch mein Alter - habe ich in meinem Leben nie Krieg in meinem Land erlebt. Die Geschichte meiner Eltern und meiner Großeltern war anders. Das ist das große Geschenk des Friedens. Chiara Lubich war sich dessen sehr bewusst, an die ich voll Zuneigung erinnern möchte: Sie ist im Trentino geboren, war Italienerin, lebte aber vor den Toren der deutschen Welt, von Jugend an erlebte sie das Drama des Krieges unter Europäern. Das Charisma ihrer Bewegung, die Einheit, bildete sich unter den Bomben, als christliche Hoffnung für den Kontinent. Aus dem Abgrund des Zweiten Weltkriegs lernten die Europäer endlich, wie töricht es ist, sich zu bekämpfen...
Doch was tun wir mit diesem Erbe des Friedens? Es zeigt sich die Versuchung, dieses Erbe zu vergeuden: Es wird vergeudet, wenn man für sich selbst lebt und das Leben nicht liebt...
Als Johannes Paul II. vor dreißig Jahren zum Papst gewählt worden war, sagte er mit prophetischer Kraft: "Fürchtet euch nicht!"...
Das europäische Christentum kennt eine Geschichte der Liebe zum Süden der Welt. Die christlichen Gemeinschaften können sich im Bewusstsein Geschichte mutig dafür einsetzen, dass die Geschwisterlichkeit unter den Völkern wieder neu entsteht. Kann Europa heute nicht zum Anwalt für Geschwisterlichkeit unter den Völkern werden? Haben die europäischen Christen nicht die Verantwortung für einen Dienst des Friedens in der Welt?...
Möge uns, liebe Freunde, der Heilige Geist Gottes, den wir an Pfingsten empfangen, der Geist der Stärke und der Liebe, in den kommenden Tagen führen. Auf uns wartet eine große Aufgabe! Ich habe heute, auch weil ich Eure Gesichter sehe, eine große Hoffnung und ein großes Vertrauen.
Andrea Riccardi