Die Krippe mitten im Leben der Gläubigen

Die Kirche Santa Maria in Trastevere in Rom wird traditionell als eine wahre Weihnachtskirche angesehen.

Santa Maria in Aracoeli und Santa Maria Maggiore sind den Römern als Weihnachtskirchen ans Herz gewachsen. Nach Erzählungen und Legenden des frühen Mittelalters geht die Gründung der römischen Basilika S. Maria in Aracoeli auf eine Weissagung der tiburtinischen Sibylle zurück. Die Sibylle soll Kaiser Augustus bewogen haben, an dieser Stelle einen Altar zu Ehren einer ihm unbekannten, die Welt rettenden Gottheit aufstellen zu lassen. In dem Gotteshaus wird auch der „Santo Bambino“, das „Heilige Kind“, eine sechzig Zentimeter große Statue des Jesuskindes, verehrt, der zahlreiche Wundertaten zugeschrieben werden. In der päpstlichen Erzbasilika S. Maria Maggiore auf dem Esquilinhügel wird der Legende nach die Krippe des Jesuskindes aufbewahrt, die im 4. Jahrhundert aus Bethlehem den Weg in die Ewige Stadt gefunden haben soll. In früheren Tagen zog der Papst am Weihnachtsfest zu dem Gotteshaus, um dort das nächtliche Messopfer darzubringen.

Zu diesen beiden Marienkirchen gesellt sich eine weitere der Muttergottes geweihte Basilika als Weihnachtskirche der Ewigen Stadt: S. Maria in Trastevere. Mit St. Marien ringt sie seit altersher um den Anspruch, die erste der Gottesmutter geweihte Kirche zu sein. Ihre Geschichte reicht bis in das dritte Jahrhundert zurück, als Papst Kalixt (217–222) ein Privathaus jenseits des Tibers, „trans tiberim“ (Trastevere), für den Gottesdienst und die kirchliche Verwaltung dieses Stadtteils bestimmte, den sogenannten „Titulus Callisti“. Auf Vorgängerbauten des 4. und 6. Jahrhunderts folgte im Pontifikat Papst Innozenz? II. (Gregorio Papareschi, 1130–1143) der Neubau der heutigen dreischiffigen Basilika S. Maria in Trastevere; sie wurde im Jahr 1148 fertiggestellt, ihre feierliche Weihe erfolgte offiziell erst siebenundsechzig Jahre später 1215.

Im Jahre 40 vor Christus hatte der römische Dichter Vergil sein „Adventslied“ verfasst: „Schon zieht der Weltalter letztes her-auf nach dem Wort der Sibylle… Schon kehrt wieder die Jungfrau, Saturn hat wieder die Herrschaft, schon wird neu ein Spross entsandt aus himmlischen Höhen … Schon reift die Zeit; tritt an die hohe Ehrenlaufbahn, Kind und Liebling der Götter, du Jupiters herrlicher Nachwuchs! Sieh, es wanket und schwankt des Weltalls schweres Gewölbe, Länder und Räume des Meeres ringsum und die Tiefen des Himmels!“ In die Zeit des „Adventsliedes“ fällt der Überlieferung nach eine Begebenheit in Rom, die von ihrer jüdischen Gemeinde (später dann auch von der christlichen) auf das baldige Kommen des Messias, des mit Öl Gesalbten, gedeutet wird.

Dort, wo sich heute S. Maria in Trastevere erhebt, befand sich in der Antike eine „taberna meritoria“, ein Legionärshospiz, eine Art Gasthaus. Hier soll im Jahre 38 vor Christus für einen Tag und eine Nacht ein Ölquell hervorgesprudelt sein, der sich in den nahen Tiber ergoss. Eine Inschrift in der Kassettendecke der Basilika verkündet: „In hac prima Dei matris aede taberna olim meritoria olei fons e solo erumpens Christi ortum portendit – In dieser ersten Kirche der Gottesmutter, die damals ein Hospiz war, entsprang aus der Erde ein Ölquell und weissagte die Geburt Christi.“

Ein Mosaikreigen unter dem Hauptbild der Apsis von S. Maria in Trastevere entstand gegen Ende des 13. Jahrhunderts und zeigt Szenen aus dem Leben der Gottesmutter: Geburt Mariens – Verkündigung – Geburt Jesu – Huldigung der Magier – Darstellung Jesu im Tempel – Tod Mariens. Die eindrucksvollen Bilder stammen von Petrus Cavallini, der von dem Titular der Kirche, Kardinal Bertoldo di Pietro Stefaneschi, mit ihrer Fertigung beauftragt worden war. Das Weihnachtsbild führt den Betrachter zu den Feldern von Bethlehem und bringt ihm Maria, das Kind, Josef, Ochs und Esel, Engel, Hirten und Schafe in Erinnerung. Neben der Abbildung des heiligen Josef erhebt sich ein antikes Gebäude mit einem gewaltigen Portal und einem Turm; eine Beischrift kennzeichnet es als „Taberna Meritoria“. Aus dem Bau ergießt sich ein dunkler Bach in einen Fluss, aus dem Schafe trinken.

„Mit diesem Gebäude und seiner Beischrift wird in die Krippenszene die Geschichte der Kirche S. Maria in Trastevere hineingestellt. Die Krippe wird gewissermaßen in die Gemeindesituation von Trastevere hineingeholt. Oder umgekehrt: die Gemeinde von Trastevere stellt sich selbst in die Krippensituation hinein. Diese merkwürdige Quelle und ihre Botschaft waren offensichtlich der Stolz der Gemeinde und sicher auch Anstoß, die Botschaft von der Menschwerdung Gottes als Quelle christlichen Lebens wahrzunehmen. Was für die Gemeinde im römischen Trastevere gilt, kann in jede Gemeindesituation übernommen werden, – ja, in die Lebenswirklichkeit eines jeden einzelnen Christen“ (Albert Altenähr O.S.B.).

„Aller Glaube, alle Hingabe, die das Volk von Trastevere für die Madonna empfindet, schlägt sich in dieser Kirche nieder. An den großen Festtagen ist sie mit Beichtvätern und Beichtkindern, mit messelesenden Priestern und gestikulierenden Predigern, mit Kerzenverkäufern und Heiligenbildermalern angefüllt – und alle fühlen sich zu Hause zwischen den gewaltigen roten Säulen, die einmal, noch bevor es eine Madonna gab, dem Tempel der Isis zum Schmuck gedient haben … Die Trasteveriner lieben diese Kirche mit Inbrunst. Sie schmücken sie mit Flitterpapier, Stanniolgirlanden und schrecklich kitschigen Andachtsbildern, und sie singen mit ihren rauhen und gutturalen Stimmen darin die Verballhornungen romantischer Lieder, die man hier für Kirchenlieder zu halten pflegt“, beschreibt Reinhard Raffalt in seinem „Concerto Romano“ das Gotteshaus.

S. Maria in Trastevere ist auch eine „Flüchtlingskirche“. Im Jahre 1434 musste Papst Eugen IV. (Gabriele Condulmer, 1431–1447) nach einer Revolte aus Rom fliehen. In der schlichten Kutte eines Mönches begab er sich zunächst zur Engelsburg. Von dort floh er zu der Marienkirche am Tiber, dessen Kardinalpriester er vor seiner Wahl zum Papst gewesen war. Aber auch hier war der Pontifex nur kurze Zeit sicher. Von seinen Verfolgern aufgespürt musste er unter dramatischen Umständen zu dem Fluss hinunterrennen. Hier nahm er eine Barke, deren Schiffer ihn mit einer großen Fuhre Holz zudeckten. Dennoch wurde er erkannt, und Steine prasselten unbarmherzig auf das Boot nieder. Aber er entkam seinen Feinden. Heute ist S. Maria in Trastevere wieder ein Gotteshaus, zu dem Menschen Zuflucht suchen – und auch finden. Bei der Basilika ist die internationale Gemeinschaft „Sant?Egidio“ beheimatet, die sich seit Jahrzehnten mit großen Engagement und dem Zuspruch der Päpste Flüchtlingen aus aller Welt annimmt. In dem diesjährigen Weihnachtsgruß der Gemeinschaft heißt es: „Weihnachten ist das Fest eines Kindes, es ist das Fest Jesu. An diesem Weihnachtsfest denken wir an die vielen Kinder, die in unserer Gesellschaft keinen Platz gefunden haben, wie Jesus in der Nacht keinen Platz fand, wo er geboren werden konnte, besonders die Kinder der Emigranten, wie viele Bilder voller Leid haben wir in diesen Jahren im Mittelmeerraum gesehen. In diesem Jahr ist Weihnachten auch das Fest der Kinder, die durch die humanitären Korridore gerettet wurden, sie sind sicher in unserem Land und in unseren europäischen Ländern angekommen und wurden aus dem Krieg gerettet.“

Und so darf sich S. Maria in Trastevere aus allen Blickwinkeln heraus und durch alle Jahrhunderte hindurch zu Recht eine Weihnachtskirche nennen.


[ Ulrich Nersinger ]