Die neue syrische Krise in einem Leitartikel von Andrea Riccardi

Armes Syrien! In einem Krieg ohne Ende, der seit 2011 andauert, ist ein weiteres Kapitel begonnen worden.

Schon wieder eine Niederlage für Europa, das gespalten, verwirrt und machtlos ist. Die Offensive ist auch über viele Christen hereingebrochen, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Nordsyrien geflohen waren.

Armes Syrien! In einem Krieg ohne Ende, der seit 2011 andauert, ist ein weiteres Kapitel begonnen worden. Arme syrische Kurden! Die teilautonome Region im Norden Syriens, Rojava, verschwindet gerade unter der türkischen Offensive. Neben den Kurden trifft es auch viele Christen, die  nach dem Ersten Weltkrieg mit den Verfolgungen im Osmanischen Reich, hierher aus der Türkei geflüchtet waren. Wird die Welt des Rojavas von diesem Krieg hinweggefegt? So muss es scheinen, wenn man die Situation mit dem vergleicht, was in der kurdischen Enklave Afrin geschehen ist, die 2018 von der Türkei in Zusammenarbeit mit arabischen Milizen besetzt wurde, nämlich der freien syrischen Armee, die aus Extremisten und Anhängern von Al Qaida besteht.

In Afrin (das seit 2012 zu Rojava gehörte) hat die syrische freie Armee ethnische Säuberungen durchgeführt. Die Kurden wurden teilweise vertrieben. Die Christen der Stadt, etwa 3.000, flohen, und die einzige Kirche wurde niedergebrannt.

Den Jesiden, etwa 30.000 an der Zahl, wurde Gewalt angetan und sie flohen aus Angst davor, dass sich die Grausamkeiten wiederholen, die bei der Besetzung des Sinjar im Irak durch ISIS geschahen. In Rojava herrscht jetzt das Chaos.

Hevrin Khalaf, eine führende kurdischer Politikerin und Aktivistin für die Rechte der Frauen, ist ermordet worden. Videos von dem brutalen Mord sind im Umlauf. Unter den Schlägen der Besatzer, Türken und radikalen Arabern, bricht das demokratische Gebäude zusammen, das die Kurden errichtet haben.

Es bricht auch das Gefängnissystem zusammen, durch das ISIS-Milizionäre (einschließlich ausländischer Kämpfer) und ihre Angehörigen in Gefängnissen und Lagern festgehalten wurden. Einige sind geflohen und stellten eine schwere Bedrohung dar.

Durch Rojava hatten die Kurden, die größte Minderheit im Nahen Osten ohne eigenen Staat, in Syrien eine Form der De-facto-Autonomie gefunden. Die kurdischen Soldaten, Männer und Frauen, hatten einen Kampf für alle - vor allem für den Westen - gegen ISIS geführt, bei dem viele gefallen waren.

Die Amerikaner waren ihre Verbündeten gewesen und hatten ihnen mit einer starken und koordinierten Luftunterstützung sehr geholfen. Es war bekannt, dass die Türkei die Existenz von Rojava als Problem ansah und seine Auswirkungen auf die kurdische Minderheit innerhalb ihrer Grenzen befürchtete, aber Rojava hatte die Rückendeckung der Amerikaner. Dann aber gab Präsident Trump durch den Rückzug seiner Truppen grünes Licht für die türkische Invasion. Die Entscheidung findet im amerikanischen Kongress keinen mehrheitliche Unterstützung. Einige fragen sich, wie die amerikanische Politik in Zukunft glaubwürdig sein kann, nachdem sie nun einen Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus im Stich gelassen hat.

Die Regierung Assad schickt gerade Truppen auf das kurdische Territorium, da sie den Einmarsch der Türken als eine Invasion des syrischen Staatsgebiets betrachtet. Die Syrer werden den türkischen Vormarsch eindämmen, und dabei kommt auch Russland ins Spiel. Allerdings ist es mit der kurdischen Region nun vorbei. 

Die Menschen fliehen zu Zehntausenden: es sind mehr als 130.000. Europa wird Sanktionen gegen die Türkei verhängen. Aber wir Europäer zählen nur sehr wenig, und Erdogan droht, Europa mit den Massen von syrischen Flüchtlingen zu überschütten, die sich nun in der Türkei befinden - und mit reichhaltigen Subventionen der europäischen Union unterstützt werden. Seit Beginn des Konflikts sind die europäischen Länder in ihren Positionen gespalten und ihre Bestrebungen gehen in die falsche Richtung. Und doch sind wir Nachbarn und nehmen - zum Teil - Flüchtlinge auf. Es ist eine schmerzhafte Situation, vor allem für die Syrer, aber auch für uns Europäer. An Europa liegt es nun, seine Ohnmacht ein für alle Mal hinter sich zu lassen.

In unserem jetzigen internationalen Rahmen, in dem es an einer klaren Ordnung fehlt und kein Land mehr die Rolle eines Wächters innehat, wie es die Vereinigten Staaten waren, ist es notwendig, dass jeder Verantwortung übernimmt.

Leitartikel von Andrea Riccardi in Famiglia Cristiana vom 20.10.2019