"Wenn in jedem Christen Gott Wohnung nimmt, darf es in ihm keine Gefühle von Hass oder Verachtung geben". Kardinal Farrel bei der Gebetswache für friedliches Zusammenleben in den USA

Gebetswache "Für friedliches Zusammenleben in den USA”  VIDEO

Meditation über Joh 14,23-27

Kardinal Kevin Joseph Farrell, Präfekt des Dikasteriums für die Laien, die Familie und das Leben
 

Liebe Schwestern und Brüder,
in diesen Tagen beobachtet die ganze Welt mit Anteilnahme die Protestwelle in vielen Städten der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem ungerechten Tod von Gerorge Floyd. Vor allem für uns amerikanische Bürger ist dies Grund zu großer Traurigkeit, da in unserem Land noch Diskrimierung, Vorurteile und Rassenhass fortdauern.

Wir neigen immer zu der Meinung, dass sich durch lange Jahre des Einsatzes für die Bürgerrechte und Rassengleichheit gewisse Ungerechtigkeiten und Gewalt der Vergangenheit nicht wiederholen. Doch leider erleben wir, dass dies nicht stimmt. Sozialer Friede und geschwisterliches Zusammenleben unter den Bürgern sind niemals eine Selbstverständlichkeit. In diesem Bereich gibt es keine Gewissheit. Die großen Bewegungen der 60er und 70er Jahre für die Bürgerrechte und gegen Rassendiskriminierung haben zweifellose tiefe Spuren im nationalen Bewusstsein hinterlassen, doch sie haben nicht alle Probleme endgültig gelöst. In diesen Tagen merken wir, dass friedliches Zusammenleben und gegenseitige Achtung kostbare Güter sind und immer gestärkt werden müssen. Sie sind nicht automatische Folge von einst ausgesprochenen Worten, die nun in historischen Reden schriftlich festgehalten sind. Vielmehr sind sie das Ergebnis tiefgreifender Einstellungen in den Herzen der Menschen. Jeder Generation muss immer wieder Hilfe angeboten werden, um ein "geschwisterliches Herz" zu haben. Der soziale Friede muss immer wieder erneuert werden, niemals ist er sicher und endgültig, denn das Herz des Menschen kann sich ständig im eigenen Egoismus verschließen und wieder durch die Sünde verschmutzt werden, sodass neue Ungerechtigkeit, Gewalt und Unterdrückung entstehen.
Eben in diesem Bereich können wir Christen einen wertvollen Beitrag leisten. Wir Christen müssen durch das Leben immer die Neuheit des von Christus auf die Erde gebrachten Evangeliums verkünden und bezeugen. Diese Neuheit ist nie selbstverständlich und muss immer neu von der jeweiligen Generation auf der Erde aufgenommen werden. Wir haben die wunderschönen Worte des Evangeliums gehört, die über eine "Wohnung" des Vaters und des Sohnes bei all denen sprechen, die Jesus lieben. Er spricht über den Heiligen Geist, den Parakleten, der den Gläubigen geschenkt wird und der Frieden schenkt, den Jesus uns als schönste Frucht seines Todes und seiner Auferstehung hinterlassen hat. All dies darf keine Theorie bleiben, es muss konkrete Auswirkungen im Leben haben.
Wenn in jedem Getauften, in jedem Christen Gott wirklich in besonderer Weise "Wohnung" nimmt, dann muss sein Herz verwandelt werden. In ihm darf es keine Gefühle von Hass und Verachtung mehr geben gegenüber irgendjemanden. Wenn der Heilige Geist, der Paraklet, wirklich im Herzen der Christen lebendig ist, werden sie auf jeden Menschen "mit den Augen Gottes" schauen, mit demselben Respekt und Mitleid, wie Gott jeden Mann und jede Frau auf Erden anschaut. Denn der Heilige Geist - wie der Heilige Vater an Pfingsten gesagt hat - ist wirklich "unser Prinzip der Einheit... Er erinnert uns daran, dass wir zuallererst Gottes geliebte Kinder sind. Darin sind wir alle gleich und alle verschieden". Wenn der Friede Christi wirklich im Herzen der Gläubigen lebendig ist, darf es keinen Platz für Rivalität, Leugnung der Würde anderer und Unterdrückung des Nächsten geben. So muss das wirkliche Leben der Christen aussehen und auf diese Weise muss es eine Verkündigung an alle geben, dass eine versöhnte und geschwisterliche Menschheit möglich ist.

Unsere Nation ist seit der Entstehung multikulturell, multiethnisch, multireligiös. Die grundlegenden Säulen sind die Gleichheit aller Menschen, die unveräußerlichen Rechte des Lebens und der Freiheit verbunden letztlich mit dem Schöpfer aller Menschen, sowie die Toleranz, das friedliche Zusammenleben, die gleichen Chancen der Entwicklung und des Wohlstands für alle. Diese Ideale sind Teil der DNA der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Gründungsurkunden. Diese Prinzipien sind letztlich nichts anderes als die Übertragung des Christentums in eine Sprache der Bürgerrechte. Daher helfen wir Christen unseren Mitbürgern, während wir über die Lehre Jesu sprechen, dass sie zu den authentischen Idealen unserer Nation, ihrer Verfassung und ihrer Gesetze zurückkehren.
Jesus hat den Jüngern das Gebot hinterlassen: "Liebt einander, wie ich euch geliebt habe" (Joh 15,12.17). Jesus unterscheidet nicht zwischen Männern und Frauen, Juden und Samaritern, einfachen Fischern und Mitgliedern des Hohen Rates, armen Hirten und reichen Zöllnern. Jesus schenkt allen Anteil an seiner Botschaft des Heils und der Barmherzigkeit ohne irgendeine Ausnahme. Diese einfache Tatsache müsste für uns alle ein eindringlicher Aufruf sein, während wir oft Unterschiede machen auf der Grundlage der sozialen Schicht, des Besitzes, der politischen Position.
Leider kann sich auch unter uns Christen ein falsches Denken einschleichen, sodass man sich nur mit einer Seite identifiziert und sich von der anderen Seite distanziert: Wohlhabende gegen arme Klassen, Intellektuelle gegen unbebildete Personen, Progressive gegen Konservative, Weiße gegen Schwarze. Dadurch verlieren wir vollkommen die universale Dimension der Botschaft Christi aus dem Blick oder identifizieren letztlich unseren christlichen Glauben mit einer ideologischen Sichtweise der Seite, auf die wir uns schlagen. Doch wir wissen, wie der Hl. Paulus schreibt, dass wir den Geist Christi vollständig erfassen: "Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus" (Gal 3,27-28). Wenn wir zu dieser Reinheit des Evangeliums zurückkehren, wird dies der beste Weg sein, um das Gemeinwohl zu stärken und parteiische oder ideologische Sichtweisen zu vermeiden.

Wir Christen müssen immer darauf hinweisen, dass das Mittel immer in Einklang mit dem Ziel stehen muss. Jesus hat über Armut gesprochen und dabei selbst arm gelebt, er hat über die Würde der menschlichen Liebe gesprochen und in Reinheit so gelebt, er hat über die Barmherzigkeit des Vaters gesprochen und schenkte allen Erbarmen, auch den Feinden. In dieser Hinsicht gibt es keine Hoffnung, dass sozialer Friede durch Gewalt aufgebaut werden kann, dass Ungerechtigkeit durch weitere Ungerechtigkeit oder noch schlimmere Vergehen beseitigt werden kann, die man verhindern will. Wir Christen müssen daher immer alle Menschen guten Willen ermutigen, ihre Kräfte für ein gemeinsames Vorhaben einzusetzen, das zum Wohl aller beiträgt, dabei müssen wir die Versuchung meiden, auf irrationale Weise das Bestehende zu zerstören und der Wut und Frustration blind freien Lauf zu lassen. Eine Kultur des Respekts, ein Gespür für die universale Geschwisterlichkeit, würdige Lebensbedingungen, gerechte Gesetze sind bleibende Güter. Beleidigende Worte und verächtliche Gesten, Plünderung und Gewalt führen zu nichts Gutem in der Zukunft. Daher dürfen wir Christen uns nicht verstecken und keine Angst haben; im Gegenteil, gerade in diesem heiklen Moment voller sozialer Spannungen müssen wir anwesend sein, um Wege zum wahren und dauerhaften Gemeinwohl aufzuzeigen, zum richtigen Wunsch nach Gleichheit, Respekt und Gerechtigkeit, der im Herzen vieler Männer und Frauen vorhanden ist.
Wie der Heilige Vater bei seiner letzten Audienz am Mittwoch gesagt hat: "Wir dürfen nicht akzeptieren, dass man die Augen vor jeglicher Form von Rassismus oder Ausgrenzung verschließt, und müssen fordern, dass die Heiligkeit eines jeden Lebens verteidigt wird. Zugleich müssen wir erkennen, dass die Gewalt der vergangenen Nächste selbstzerstörerisch und selbstschädigend ist. Nichts ist gewonnen durch Gewalt, aber viel verliert man durch sie" (Audienz, 3. Juni 2020).

Liebe Brüder und Schwestern, die Kirche möchte bei der Verkündigung der Worte des Evangeliums Jesus gegenüber treu sein, sie stellt sich nicht auf eine Seite oder bekennt sich zu einer Kategorie gegen die anderen, sie betreibt keine politische Propaganda und übt auch keinen Prosyletismus, sie will einfach nur der Gesellschaft helfen, das Gemeinwohl zu stärken und Beziehungen einer authentischen Geschwisterlichkeit unter den Menschen aufzubauen.
Bitten wir den Herrn, dass er auf alle unschuldigen Opfer blicke, die durch Ungerechtigkeit und Rassendiskriminierung gestorben sind und ihr Blut vergossen haben, hilf unserer geliebten Nation, eine wirklich friedliche und geschwisterliche Gesellschaft aufzubauen.
Amen.