Marco Impagliazzo: "Eine Gesellschaft ohne Kontakt zu den alten Menschen wird unmenschlich"

Interview im Corriere della Sera und Video

Der Präsident der Gemeinschaft Sant'Egidio, Marco Impagliazzo, beschreibt die Lage der alten Menschen in Heimen und die Schwierigkeiten des Pflegemodells für betagte alte Menschen im Hinblick auf den Gesundheitsnotstand durch die Covid-19 Pandemie.
Häusliche Betreutung, Wohngemeinschaft, Co-housing, Nachbarschaftshilfe sind einige der vielen Möglichkeiten, die sich als Alternative anbeiten zu dem von der Gesellschaft normal angesehenen Modell der Institutionalisierung. An die Stelle der Sorge "einen Platz zu finden", wohin man die alten Menschen bringt, sollen Lösungen vorgeschlagen werden, die ein Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen und nicht von der Zuneigung der Angehörigen entfernt.

Brief von Marco Impagliazzo im Corriere della Sera: "Alte Menschen hinter einer trennenden Mauer"
Viele Bürger werden stark ausgegrenzt bei der Rückkehr zu einer "behüteten Normalität"

Sehr geehrter Herr Direktor, in den vergangenen Wochen ist man trotz der Fortdauer der Covid-19 Pandemie schrittweise - mit den angemessenen Vorsichtsmaßnahmen - zurecht wieder zu den Aktivitäten zurückgekehrt, nicht nur in den Bereichen Arbeit und Schule, sondern auch angefangen im Sommer im Bereich der sozialen Beziehungen an den Tourismusorten und in allen Städten, teilweise mit der Sorge über Folgen der Ansammlungen. Es gibt jedoch eine große Kategorie von Bürgern, die noch immer von dieser Rückkehr zur "behüteten Normalität" ausgeschlossen ist: die "institutionalisierten" alten Menschen.

Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist durch Mitarbeiter und Freiwillige in Hunderten Senioreneinrichtungen tätig und sieht diese neuen "Leitlinien" des obersten Gesundheitsamtes in Bezug auf die Besuche von Familienangehörigen und Freunden in Heimen
als stark herabsetzend an. Die Initiative hätte ein positiver Schritt im Hinblick auf die Wiedereingliederung der alten Menschen in die Gesellschaft sein können. Doch das ist nicht so. Trotz der äußerst harten Einschränkungen bei den sozialen Beziehungn über über 65jährige seit dem Lockdown bis heute mit schwerwiegenden psychischen und gesundheitlichen Folgen enthalten die Leitlinien extrem einschränkende Schutzmaßnahmen für die interpersonalen Beziehungen der Bewohner, sodass sie eine Verletzung der individuellen Rechte abzeichnet.Während die angewandten Einschränkungen für Infizierte sicher verständlich sind und eine Quarantäne nötig wird, erscheint es doch fragwürdig, die auf diejenigen anzuwenden, die Schutz benötigen und keine Infektionen verbreiten. In einigen Fällen werden einschränkende Maßnahmen verhängt, die denen im Justizvollzugssystem ähnlich sind.

Man denke nur an das vorenthaltene Recht, Besuche zu empfangen, bei dem die Anweisung ganz in den Händen der Einrichtungsleiter gelegt werden und auf Ausnahmefällen und dann nur auf einen Familienangehörigen und eine Höchstdauer von 30 Minuten pro Besuch beschränkt wird. Statt einer restriktiven Vorgehensweise erscheint uns das Gegenteil angemessen, nämlich mehr Kontakt der Bewohner mit der Außenwelt natürlich unter Beachtung der Vorsichtmaßnahmen, der neben den Familienangehörigen auch Freunde und Ehrenamtliche umfasst, da es bei den Bewohnern sehr viele Alleinstehende gibt.

Diese Einschränkungen garantieren keinen wirksamen Schutz für Gebrechliche Personen, da allgemein anerkannt ist, dass persönliche Beziehungen unerlässliche Faktoren darstellen, um die physische, geistige und psychische Gesundheit einer jeden Person zu schützen. Natürlich müssen neue Covid-19 Hotspots in Heimen vermieden werden, wie das leider auf dramatische Weise in den ersten Monaten der Pandemie der Fall war. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass die überwiegende Mehrheit der Ansteckungen in diesen Einrichtungen nicht nur Kontakte zu Angehörigen oder Besuchern geschehen ist - die stattdessen als Erste auf die Entwicklungen hingewiesen haben - sondern durch fehlende Schutzmaßnahmen durch die Heime, die die alten Menschen betreuen sollen. Daher müssen engere Kontrollen des Gesundheitspersonals durchgeführt werden, das - trotz des heldenhaften persönlichen Engagements vieler Mitarbeiter - zu oft teil der Ansteckungsketten ist, hier sind Maßnahmen von Seiten der Einrichtungsleitungen erforderlich
.

Die Schwierigkeiten oder die Unmöglichkeit, Informationen über die Bewohner zu bekommen, auf die immer wieder - und häufig von den Angehörigen - hingewiesen werden, wurde bei der Erstellung der Leitlinien durch die oberste Gesundheitsbehörde nicht beachtet. Wenn es schon nicht zu einer persönlichen Begegnung kommen kann, doch müssen unbedingt Bezugspersonen benannt werden, die Informationen und Beziehungen garantieren auch über Video oder sozialen Medien, während solche Mittel in den Einrichtungen fast noch überhaupt nicht vorhanden sind.

Auch in Bezug auf die Gesundheitsversorgung der Heimbewohner weisen wir auf sehr kritische Umstände hin. Das Dokument rät beispielsweise davon ab, das Haus wegen eines Arztbesuches bei Spezialisten zu verlassen, ohne einen Alternativvorschlag zu machen: diese Anweisung schränkt das Recht auf Behandung ein, wenn man zudem bedenkt, dass die Personen oft unter schweren oder chronischen Krankheiten leiden, die eine angemessene Betreuung unbedingt erforderlich machen. Auch der Vorschlag, dass Hausärzte sich der Telemedizin bedienen sollten, die in Altenheimen noch kaum möglich ist, statt direkte Besuche durchzuführen - die man sicherlich garantieren könnte - wird wahrscheinlich eine Einschränkung der gesundheitlichen Versorgung mit sich bringen. "Institutionalisierte" alte Menschen dürfen nicht zu Bürgern zweiter Klasse werden, im Gegenteil, unter strengster Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen, benötigen sie als Erste die Aufmerksamkeit der Institutionen und der Gesellschaft. Man darf das Schicksal des Jüngeren nicht von dem des Ältren trennen! Die Gesellschaft braucht Brücken und keine Mauern.

Marco Impagliazzo
Präsident der Gemeinschaft Sant'Egidio

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