Meditation von Kardinal Michael Czerny in Santa Maria in Trastevere/Rom beim Gebet für die Inseln von Tonga. Kommentar zu Hiob 38,1-16

Meditation von Kardinal Michael Czerny in Santa Maria in Trastevere beim Gebet für die Insel von Tonga

Kommentar zum Buch Hiob 38, 1-16

Liebe Brüder und Schwestern, lieber Herr Erzbischof der Anglikanischen Kirche, lieber Herr Botschafter von Australien beim Heiligen Stuhl und Herr Delegierter der Botschaft der Vereinigten Staaten beim Heiligen Stuhl,
wir haben uns hier versammelt, um nach dem gewaltigen Vulkanausbruch und dem anschließenden Tsunami auf den Inseln von Tonga zu beten, einem der katastrophalsten Vulkanausbrüche der Neuzeit. Heute teilte der Bischof von Tonga, Kardinal Mafi, mit, dass die Mehrheit der Bevölkerung wie durch ein Wunder vor dem Schlimmsten bewahrt wurde, da nur drei Menschen ihr Leben verloren.
Der materielle Schaden ist jedoch so groß, dass es lange dauern wird, bis wieder ein normales Leben möglich sein wird. Die Menschen haben Häuser, Plantagen, Maschinen und Materialien für Fischerei und Landwirtschaft verloren. Die Regierung, die Bevölkerung, die Kirche und viele andere Organisationen sind dabei, die Auswirkungen dieser Katastrophe zu bewerten, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen und die internationale Gemeinschaft um Unterstützung zu bitten. Der Appell des Heiligen Vaters am vergangenen Mittwoch im Gebet für das heimgesuchte Volk wurde von den Bewohnern dieses Archipels mit Freude und Dankbarkeit aufgenommen.
Tonga war ein wenig bekannter Name, und für uns ist es eine ferne Welt, doch die Leidenden sind nie weit von uns entfernt, die wir uns als Jesu Freunde ansehen, die immer vom Vater geliebt werden und dazu berufen sind, mit der Menschheitsfamilie ein einziges Schicksal in dem gemeinsamen Haus zu haben, das die Erde ist. Unser Gebet will die Distanz verkürzen und die Isolation durchbrechen.

Die Katastrophe auf den Inseln von Tonga hat uns wegen ihres Ausmaßes schockiert, wegen des plötzlichen Auftretens von Naturgewalten, die uns alle plötzlich kleiner und zerbrechlicher machen. Einerseits haben wir uns, wie Papst Franziskus in seinem Gebet auf dem Petersplatz während der Pandemie in Erinnerung rief, der Illusion hingegeben, dass wir in einer kranken Welt, in einer durch Raubbau verwundeten Welt, immer gesund bleiben werden. Andererseits haben wir uns auch vorgemacht, dass wir fast allmächtig sind, dass wir die Natur, die Welt beherrschen, als wäre es unser eigenes Werk.

In diesem Sinne kann die Geschichte Hiobs für uns sehr aufschlussreich sein, denn sie zeigt uns, dass die Anmaßung gegenüber der Realität und damit auch gegenüber Gott eine Haltung ist, die zum menschlichen Herzen gehört, selbst bei den gerechtesten und religiösesten Menschen. Hiob glaubt, ein rechtschaffenes Leben zu führen, aber in der Stunde der Prüfung geraten sein Selbstbild und sein Gottesbild in tiefe Bedrängnis.
In den Stimmen der Freunde und Bekannten um ihn herum und sogar in den Stimmen seiner Frau macht uns der biblische Bericht bewusst, dass sich hinter den Worten und Gesten der Hingabe an Gott ein gewisser Stolz, fast ein Gefühl der Selbstgenügsamkeit, verbergen kann. Vielleicht ist Hiob selbst blind für diese heimtückische Neigung der menschlichen Natur, bis die Prüfung des Leidens kommt und alles in Frage gestellt wird.
Sich dessen bewusst zu werden, ist ein langer und mühsamer Weg, der durch Rebellion und beinahe durch Blasphemie führt. Anstatt sich mit Lügen und leeren Worten zu begnügen, fordert Hiob Gott heraus und versucht, ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen und sogar seine moralische Führung der Welt auf den Prüfstand zu stellen.

Hiob ist der Typus des Menschen, der sich nicht zum Mittelpunkt seines Lebens und des gesamten Universums gemacht hat, sondern sich von den Ereignissen herausfordern lässt und gerade in dieser Ehrlichkeit seine Treue beweist.
In dem Abschnitt, den wir gehört haben, spricht Gott zu Hiob aus dem Sturm heraus, setzt ihn dem Druck des Unerwarteten aus, dem unerwarteten Aufruhr des Wetters, und fordert ihn als Mensch heraus, damit er sich an den Grundfragen der Existenz messen lässt. Anstatt seine Fragen zu beantworten, Licht in das zu bringen, was für Hiob unklar und unverständlich bleibt, weitet Gott das Feld des Unbekannten aus und vergrößert die Fragen: Wer bist du? Wo warst du? Kannst du das? Weißt du das? Er stellt jede vorhersehbare Antwort, jedes Klischee, jedes Vorverständnis in Frage und zwingt ihn, seine eigene Unfähigkeit zu erkennen, Antworten und Kontrolle über alles zu haben.
Wir wissen heute viel mehr als Hiob. Unser technisch-wissenschaftliches Wissen hat es uns ermöglicht, die Materie mit Entzauberung zu betrachten, aber gleichzeitig hat es uns von jener weisheitlichen Sicht der Welt entfernt, die uns dazu führte, das Geheimnis der Schöpfung zu erkennen und ihr mit dem Staunen und der Ehrfurcht derjenigen zu begegnen, die sich selbst als begrenzt ansehen.

Das Buch Hiob lehrt uns, dass das Leiden ein Drama ist, das keine neutralen Zuschauer zulässt. Mensch, Natur und Gott sind gleichermaßen beteiligt. Hiob lehrt uns auch, dass in schmerzlichen Situationen nicht alle Worte, selbst religiöse, angemessen sind. Es gibt viele Stimmen, die in die Irre führen; man muss ihnen im Kampf des Gewissens und des Gebets widerstehen.
Das Leiden ist keine zufällige Dimension des menschlichen Lebens, sondern ein Aspekt des Lebens jedes Mannes und jeder Frau. Das ist die Lebenswirklichkeit, die uns ermöglicht, uns mit der Endlichkeit unseres Seins auseinanderzusetzen. Auf der Ebene des Glaubens wird dies zu einer Gelegenheit, nicht nur die alten Bilder von Gott und von uns selbst aufzugeben, sondern auch Mitgefühl zu entwickeln. Wenn man an der Seite der Leidenden kämpft, macht man die Erfahrung der Solidarität, des Gebens und der Gemeinschaft.
All dies ist uns in dieser Zeit der Pandemie sehr deutlich geworden, in der ein winziges, unsichtbares Virus die Menschheit verändert und in einigen Fällen vernichtet hat, indem es mehr als 5 Millionen Menschen aus dem Leben gerissen hat.
Natürlich können wir heute, anders als in der Vergangenheit, dieser Krise mit anderen Mitteln begegnen, aber wie bei der Pandemie müssen wir auch bei den beeindruckenden Kräften von Katastrophenereignissen, wie denen der Tonga-Inseln, erkennen und anprangern, dass fast nichts von den Ressourcen für die Verhinderung von Katastrophen, d.h. für die Bewahrung des Lebens und der Erde, eingesetzt wird. Papst Franziskus bekräftigt in Laudato si': Noch nie hatte die Menschheit so viel Macht über sich selbst, und nichts garantiert, dass sie diese Macht gut nutzen wird.
Gott sei Dank hat die Caritas in Tonga von Anfang an mit dem von der Caritas Neuseeland kurz vor Weihnachten gesandten Material begonnen, den Menschen zu helfen und Wasser, Lebensmittel, Kleidung und Decken zu verteilen. Seit letzter Woche hat die Caritas Neuseeland mit Hilfe der neuseeländischen Marine noch mehr Hilfsgüter geschickt.

Beten wir nun zum Herrn für unsere Brüder und Schwestern, die unter dieser Katastrophe auf den Inseln von Tonga leiden, die seit dem letzten Jahrhundert mit aufrichtiger Begeisterung den christlichen Glauben angenommen und auch ein originelles Gesellschaftsmodell entwickelt haben. Wir appellieren an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, diese Brüder und Schwestern aus ihrer Verzagtheit und Entmutigung herauszuholen. Er, der das Meer zwischen zwei Toren verschlossen hat, der die Grundfesten der Erde gelegt hat, der am Morgen gebietet und den Ort der Morgendämmerung markiert, der die Grundfesten der Erde gelegt hat, damit sie der Gewalt der Natur ein Ende setzen, wie sein Sohn dem Sturm auf dem See Genezareth ein Ende gesetzt hat. Damit die Menschen in Tonga wieder aufbauen können, was der Sturm zerstört hat, und damit Gelassenheit einkehren kann.

Wir bitten den Herrn, die Herzen von Männern und Frauen zu berühren, damit sie die Wissenschaften der Erde so lenken, dass sie die Menschen aus Naturkatastrophen, Klimawandel, Krankheit, Armut und Ausgrenzung befreien. Mögen unsere Gebete jede Entfernung überwinden und zeigen, dass wir zu der einen Familie Gottes gehören, in der wir alle als Adoptivkinder willkommen sind. Trotz aller Unterschiede und Vielfalt teilen wir ein gemeinsames Schicksal, wir sind Kinder des einen Vaters, wir leben in einem gemeinsamen Haus, wir sind alle Brüder und Schwestern. Amen.