VERANSTALTUNGEN

16. Oktober 1943: dieses Gedenken werden Sant'Egidio und die jüdische Gemeinde niemals aufgeben

Der Gedenkzug. Die Rede von Andrea Riccardi

Ein Schweigemarsch zog von der Piazza Santa Maria in Trastevere wie seit 1994 jedes Jahr bis zum Portico di Ottavia, um an die Razzia im Ghetto am 16. Oktober 1943 zu erinnern, bei der 1024 Menschen von den nationalsozialistischen Besatzungstruppen gefangen genommen und in die Vernichtungslager deportiert wurden. Nur 16 Personen kehrten überlebten und kehrten zurück.

Der traditionelle Zug wurde von der jüdischen Gemeinde Roms und der Gemeinschaft Sant’Egidio organisiert. Hinter dem Spruchband am Anfang des Zuges liefen die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Roms, Ruth Dureghello, die Bürgermeisterin Roms, Virginia Raggi, der Präsident der Region Latiums, Nicola Zingaretti, und Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio. Wie üblich wurden im Zug Schilder mit den Namen der nationalsozialistischen Konzentrationslager getragen, in denen Millionen Juden aus ganz Europa getötet wurden. „Ich habe alle Römer eingeladen, mit uns zu gehen, um einen wichtigen Teil unseres Gedenkens als römische Bürger in Erinnerung zurufen, denn der 16. Oktober ist eine Wunde für die ganze Stadt. Er ist Teil unserer Erinnerung und unserer Geschichte, unseres Daseines und unserer Zukunft, vor allem in Tagen wie diesen“, sagte Frau Raggi. Dann hob sie hervor: „In diesen Tagen haben zwei Mädchen bei einer Besichtigung den faschistischen Gruß vor dem Eingang von Auschwitz-Birkenau gezeigt; dabei sage ich mir, dass auch wir verantwortlich sind, denn wir haben auf nur vier Seiten eines Geschichtsbuches ein solch große Tragödie beschränkt. Momente wie heute müssen dazu dienen, dass wir erkennen, wozu wir fähig waren und was wir nicht mehr sein wollen.“ Der Präsident von Latium wies darauf hin: „Dieser Gedenkzug verfällt nie dem Irrtum, nur bei der Feierlichkeit oder der Erinnerung stehenzubleiben, er klagt nämlich die Fehler an und weist auf Gefahren und die Notwendigkeit hin, die Werte mit Leben zu erfüllen. Der Hass war die Ursache für den 16. Oktober und den in diesem Jahr 75. Jahrestag der Deportation und den 80. Jahrestag der Rassengesetze, denn es hätte keine Razzia gegeben, wären nicht zuvor die Rassengesetze beschlossen worden. Der 16. Oktober ist das das Ergebnis eines Prozesses auf der Grundlage von Hass und Intoleranz.“ Auf die Frage nach Signalen einer Rückkehr von Intoleranz und Rassendiskriminierung antwortete Zingaretti: „Es ist eine Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der man die Kultur des Hasses verbreitet; darauf muss mit der Kultur der Gerechtigkeit geantwortet werden.“ Frau Dureghello sagte: „Heute muss die Erinnerung noch mehr gepflegt werden, denn die Tatsachen rücken zeitlich weiter in die Ferne; vor allem den Jugendlichen muss erklärt werden, dass diese Ereignisse keine Fakenews sind, sondern Wirklichkeit.“ Das Böse nistet sich auch weiterhin durch Diskriminierung und Rassenhass ein.“ (AGI)


Die Rede von Andrea Riccardi

Michele Tagliacozzo, ein mittlerweile verstorbener römscher Jude und ein Jugendlicher in der Zeit jenes 16. Oktobers, hat mir diese Seite aus seinem Tagebuch geschickt:
„Um 6.15 Uhr waren wir noch im Bett, als bewaffnete SS-Truppen in das Gebäude kamen und in die Wohnung des Zwischengeschosses eindrangen… Mama öffnete die Tür, während sie laut den Zettel vorlas, der ihr von den Schergen vorgehalten wurde und sie aufforderte, ihnen zu folgen, konnte sich noch ‚Reshudde‘ sagen, was in jüdischer Mundart ‚flüchten“ bedeutet. Ich sprang sofort im Schlafanzug aus dem Bett und ließ mich aus dem Fenster des Zimmers herab, das zum Garten führte. Die nichtjüdischen Mieter des Gebäudes verstanden sofort, dass sich die Maßnahme nur auf Juden bezog, daher versuchten sie… uns zu helfen. Eine einfache Waschfrau, die im dritten Stock wohnte, lud mich ein, in ihre Wohnung hinaufzukommen… in diesem Augenblick traf mich der Ausruf der Frau durch Mark und Bein: ‚Arme Schwester Grazia! Die Deutschen führen sie ab mit ihren Kindern‘.“

Das ist eine von vielen Seiten über den 16. Oktober, der im Gedächtnis aller ein kalter und regnerischer Tag war. Ein Tag vollkommener Unmenschlichkeit, an dem doch die Menschlichkeit der Mutter als Licht leuchtet, die den Sohn fliehen lässt: „Reshudde“. Und eine Waschfrau: „Arme Schwester Grazia! Die Deutschen führen sie ab mit ihren Kindern.“ Im Meer der Interessenlosigkeit vieler gegenüber einer jüdischen Gemeinde, die durch die Rassengesetzte von 1938 isoliert worden wawr, beweist der Schrei einer Waschfrau, dass Rom nicht vollkommen die Menschlichkeit verloren hatte. Im Drama dieses Tages und der folgenden Monate erlebten die Juden Roms die Stärke der Gerechten, wie bei den Waschfrauen. Leider erlebte die Stadt jedoch den Wahn der Gewalt und die rationale Gewalt der Nationalsozialisten, wie auch den faschistischen Wahn des Krieges und der Denunzianten und die Untätigkeit einer Welt, die mit der Freiheit auch das Gespür für die Menschlichkeit verloren hatte.

Wir sind heute viele, um die jüdische Gemeinde zu begleiten und seit 1994 dieses Gedenken in Treue zu begehen. Viele von uns wiederholen auch heute den Satz von Rabbiner Toaff, den er, schon damals ein alter Mann, sagte: „Solange ich leben, werde ich kommen!“ Wir sind heute viele, wie jedes Jahr, denn dieser schreckliche Tag soll für uns nicht im Verlauf der Jahre verblassen, sondern in seiner Bedeutung noch deutlicher erkannt werden – denn er erinnert auch an viel anderes Leid, das es heute noch auf der Welt gibt. Es war eine Folge des Krieges, des Rassenhasses, des Verlustes der Freiheit.

Mit der Zeit wird alles grau, nur das Ich bleibt, ich allein mit meinen Ängsten, meinen Erinnerungen und Bedürfnissen. Dagegen brauchen wir helle Lichter wie diese Kundgebung, die uns trotz der Unterschiede vereint. Daher werden wir, die jüdische Gemeinde und die Gemeinschaft Sant’Egidio, sie nie ausfallen lassen. Manchmal, liebe Freunde, scheint dieses Licht durch die ausgeübte Verachtung verloren zu gehen. Die Verachtung ist der Anfang des Bösen. Niemand hat Verachtung verdient. Auch wer sich ganz und gar von uns unterscheidet. Ich danke an viele Immigranten, von denen viele heute hier sind, die es nicht verdient haben, als Sündenbock der Angst herhalten zu müssen, die in uns steckt: diese Angst sucht durch die Verachtung Sicherheit. Uns jedoch schenken feste Überzeugungen Sicherheit, die Achtung des Anderen und die Regeln des Zusammenlebens, wie auch die Freundschaft, die uns hier in großer Zahl zusammenführt.