"Papst Bergoglio? Er ist einer, der nicht stehenbleibt" - Interview mit Andrea Riccarde in "Il Mio Papa"

Andrea Riccardi und Papst Franziskus lernten sich Anfang 2000 kennen, als Bergoglio noch Erzbischof von Buenos Aires war

Papst Franziskus ist so: "Er ist fähig, sich für die großen Probleme der Welt zu interessieren und einzusetzen, beispielsweise für das Schicksal des geplagten Südsudan in Afrika, das einen schrecklichen Konflikt hinter sich lassen möchte, aber auch für die Lage einzelner Personen, eines Obdachlosen, der neben der Arbeit auch seine Wohnung verloren hat, wie auch für den alten Mann, der ein Leben lang gearbeitet hat und jetzt kaum mit der Rente auskommt, oder für die Migrantin, die mit der typischen Kraft einer Mutter ihren Sohn aufzieht und ihm eine bessere Zukunft ermöglichen möchte." Andrea Riccardi wurde 1950 in Rom geboren, er ist ein Intellektueller, Universitätsprofessor und Autor vieler Bücher, sowie der Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio (1968). Sofort strahl sein Gesicht, wenn die Rede auf Papst Franziskus kommt. Denn zum einen kennt er Bergoglio schon längere Zeit, als er noch Erzbischof in Argentinien war, zum anderen hat er ihn besonders als Pontifex kennengelernt, die fast einer Zusammenarbeit zweier alter Freunde ähnelt, die sich wiedertreffen und derart vertiefen, dass Bergoglio bei den großen diplomatischen Initiativen Sant'Egidio vertraut, wie es für den Südsudan der Fall ist, aber auch bei den caritativen Werken in Rom, die eine vollkommene Neuheit darstellen wie die Eröffnung einer Unterkunft in Palazzo Migliori, einem historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mit atemberaubenden Blick auf die Kolonaden auf dem Petersplatz. Nicht erwähnt ist dabei die Iniitiative der humanitären Korridore, durch die Sant'Egidio seit Februar 2016 bis heute über 2800 Personen auf sicherem Wege nach Europa gebracht und die Integration begleitet hat. "Er ist einer, der fähig ist, sich für die großen Probleme der Welt einzusetzen, wie auch für die Sorgen von einzelnen Personen."

Wie ist der Kontakt zum Papst entstanden?
«Wir sind uns Anfang der 2000er Jahre begegnet, ich habe ihn in Rom in Santa Maria in Trastevere kennengelernt und dann mehrere Male in Argentinien getroffen. Sie sagten mir, dass er einer sei, der viel in der Stadt unterwegs sei, der mit den Mitgliedern der Gemeinschaft Sant'Egidio in die Peripherien geht.»

Welchen Eindruck hatten Sie?
"Meine erste Begegnung mit ihm hat mich sehr beeindruckt, ich habe einen Mann kennengelernt, der nicht resigniert ist, der einen weiten Blick für die Zukunft hat. Normalerweise meint man, dass ein alter Bischof fast nur noch an seine Pension denkt. In seinem Fall war das nicht so. Franziskus ist nicht sehr viel in der Welt herumgekommen, doch es ist fast so, als hätte er in dieser Megacity von Buenos Aires einen Eindruck von ihr bekommen. Dort ist er ein Mann ohne Grenzen geworden. Auf ihn trifft der Satz von Johannes Paul II. zu, dass 'es keine andere Grenze gibt, als die der Nächstenliebe'."

Wie hat sich Ihre persönliche Beziehung entwickelt?
«Die Begegnungen mit ihm waren immer sehr inteniv. Sehr beeindruckt hat mich seine Papstwahl, ich war wirklich sehr froh und habe für ihn sofort ein Buch geschrieben: 'Franziskus. Papst der Überraschungen'. Ich dachte, dass die Botschaft dieser Wahl eine Antwort auf die Kirchenkrise sei. In diesen Tagen traf ich ihn in St. Johannes im Lateran, als er von der Kirche als Papst Besitz ergriff; er sagte zu mir: 'Du musst für mich beten', aber mit einem Ton, als wollte er sagen, nicht wie du es vorher getan hast, also bevor ich Papst wurde.»

Sie sind also ein großer Unterstützer von Franziskus. Andere greifen ihn jedoch an.
«Ich wiederhole denselben Gedanken: Bergoglio ist die Antwort auf die Kirchenkrise. Die jetzt sichtbaren Probleme haben eine lange Geschichte. Und er ist die Antwort, denn er hat den Glauben in den Mittelpunkt gestellt. Am Sonntag, 26. Januar, wurde auf seine Initiative hin zum ersten Mal das Fest des Wortes Gottes gefeiert. Für mich ist das eine geniale Idee; im Grunde genommen ist Fronleichnam das Fest der Eucharistie; und dieses Fest ist ein Zeichen für die Verehrung des Wortes Gottes.»

Was noch?
«Der andere Aspekt, warum ich von einer Überraschung spreche, ist die Tatsache, dass er die Armen dieser Welt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Christentum lehrt, dass man sich nicht allein rettet, man rettet sich nicht, ohne den anderen zu helfen. Dann hat dieser Papst die Grenzen zwischen den Religionen überschritten.»

Warum gefällt ein solcher Papst nicht allen?
«Ein anderer der Feinde dieses Papstes heißt Faulheit. Die Faulheit der Christen. Mancher sagt sogar, dass Papst Franziskus zu viel über die Migranten spricht und die Europäer vergisst. Als Forscher, der sich mit der Papstgeschichte befasst, sage ich, dass Franziskus hier nicht fortschrittlicher ist als seine Vorgänger: Übertreiben wir nicht mit der radikalen Neuheit dieser Worte des Papstes über die Migranten; unsere Sensibilität hat sich geändert.»

Haben Sie direkt mit ihm darüber gesprochen?
«Mehrere Male hat er zu mir in privaten Gesprächen gesagt, dass er Europa wie eine Großmutter empfindet und dass Europa nicht für sich selbst leben darf. Dann habe ich viel mit ihm über die Frage der humanitären Korridore diskutiert. Ich habe ihm von der schrecklichen Lage erzählt, die ich im Flüchtlingszentrum auf Lesbos gesehen habe, das fast ein Gefangenenlager ist. So gelang es uns gemeinsam, ca. vierzig Menschen von dort hierher zu bringen. Während ich ihm von der Lage berichtete, die ich bezeugen kann, sah ich, wie Tränen in die Augen des Papstes traten (nach diesen Worten wollte Papst Franziskus unbedingt die Insel Lesbos besuchen, das war dann im April 2016 und er setzte sich für bessere Bedingungen für die Flüchtlinge ein, A.d.V.).»

Er ist nicht nur beim Korridor aus Lesbos stehengeblieben.
«Nein. Er sagte zu mir: 'Was können wir noch tun?' So entstand ein weiterer humanitärer Korridor aus Äthiopien, dann noch weitere. Was die Migranten angeht, muss man eine Sache verstehen: Papst Franziskus hat keine Angst vor ihnen, sie kommen, um die Gesellschaft zu erneuern. Seine Vorstellung ist auch realistisch, denn der demographische Wandel unseres Landes steht allen vor Augen.»

Sprechen wir über Palazzo Migliori. Ihr von Sant'Egidlo betreut schon verschiedene Schlafstätten in der Hauptstadt, zum ersten Mal wollte Franziskus, dass ein historischer römischer Palast neben den Kolonaden von Bernini für Obdachlose zur Verfügung gestellt wird. Die Gemeinschaft Sant'Egidio kümmert sich um die Betreuung. Die Armen haben Zugang zu einer Art Luxusresidenz, von der sie auf die Kolonaden von Bernini und auf den Petersplatz blicken können.
«Das stimmt, dieser Palast hat eine besondere Bedeutung. Dort lebten Ordensfrauen, die das Gebäude verlassen haben, und dann kam einfach die Idee: Warum geben wir diesen schönen Ort nicht denen, die keinen Platz zum Schlafen haben? Das soll eine andere Säulenhalle sein, eine Säulenhalle der Gastfreundschaft, denn neben einer Kirche muss immer ein anderes Haus stehen, ein Haus für die Obdachlosen, denn nur so schaffen wir eine menschlichere Stadt.»

Wenn man Sie über Franziskus sprechen hört, scheint er die Zusammenfassung von Optimismus zu sein.
«Woher diese Hoffnung eines 83jährigen Mannes kommt, der niemals resigniert, kann ich nicht sagen. In ihm ist etwas Jugendliches, etwas, dem ich vor zwanzig Jahren begegnet bin, und das immer mehr wird, je öfter ich ihm begegnen und mit ihm sprechen kann. Es ist eine mit Mitleid vermischte Kraft. Für mich ist es der Drang, durch den er sich vor den Vertretern der Konfliktparteien aus dem Südsudan verneigte, dei wir zu Verhandlungen nach Rom gebracht haben. Diese Geste hat uns einen Weg aufgetan, und jetzt wurden die Verhandlungen wiederaufgenommen. Wir haben, dass wir ein für alle Male das Wort Frieden schreiben können.»

[ Nina Fabrizio ]