Begegnung, Friede, Zusammenleben: Miteinander von Anhängern verschiedener Religionen. Leitartikel von Andrea Riccardi

Die Gläubigen versammeln sich zum Gebet beim Kolosseum mit Papst Franziskus und anderen Religionsoberhäuptern. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wird dort sprechen

Der Aufstieg der Taliban in Afghanistan hat dem radikalen Islamismus neue politische und ideologische Kraft verliehen. Seit Ende der 1970er Jahre sind diese Positionen - mit Höhen und Tiefen - die Grundlage für politische Prozesse, die häufig in Gewalt und Terrorismus münden. Heute hat der Dschihadismus in einigen Teilen der Welt, vor allem in Afrika, die Rolle eines neuen "Guevarismus" übernommen, der das Unbehagen marginalisierter Regionen, die Wut ausgegrenzter Jugendlicher und ethnische Rivalitäten vereint.
Es geht nicht nur um die Probleme des Islam. Radikalismus ist eine nicht unbedeutende Realität in anderen religiösen Bereichen. Die religiöse Welt wird jedoch nicht von diesen Tendenzen beherrscht, außer in bestimmten Situationen. Und nicht nur das: Religionen, die sich bis gestern noch fremd waren, um nicht zu sagen feindlich gegenüberstanden, haben sich in den letzten Jahrzehnten einander angenähert. Die Idee von Johannes Paul II. aus dem Jahr 1986, die Religionen in Assisi zusammenzubringen, um sich zu begegnen und zu beten, war eher eine Vision als ein Arbeitsprogramm. Diese Vision entstand in einer Welt, die den Kalten Krieg hinter sich ließ, die den Fundamentalismus kannte, aber auch in unbekannte Dimensionen vorstieß. Die Sorge von Kardinal Ratzinger angesichts der Vision von Assisi war, dass diese einem Synkretismus Vorschub leistet, in dem eine Religion denselben Wert wie andere besitzt.
Aber die Welt veränderte sich und wurde global: Das Zusammenleben zwischen verschiedenen Menschen wurde zur Realität, während getrennte Existenzen sektiererische Überbleibsel waren. Letztendlich wurde die Vision von Assisi zu einer Anlaufstelle für verschiedene Religionen, die den Raum des Anderen im Kontext der Begegnung und des Zusammenlebens neu überdachten.
In dieser Woche treffen sich in Rom Gläubige verschiedener Religionen auf Initiative der Gemeinschaft Sant'Egidio zu einem gemeinsamen Gebet mit Papst Franziskus im Kolosseum. Auch Bundeskanzlerin Merkel wird an dem Treffen teilnehmen.
Das Treffen in der Hauptstadt wird nicht das einzige in diesen Tagen sein: Ein interreligiöses Treffen ist der Cop26 in Glasgow gewidmet, einem Ereignis, das als entscheidend für den Kampf gegen den Klimawandel angesehen wird. Ein weiteres interreligiöses Treffen befasst sich mit dem Thema Religion und Bildung. Handelt es sich um Rituale, die von Religionsvertretern gewünscht werden, während sie mit der Entleerung ihrer Botschaft zu kämpfen haben, und die schließlich in die politische Korrektheit des Dialogs einfließen? Das Thema ist komplexer: Es geht um den Prozess des Dialogs, der wie erwähnt eine lange Geschichte besitzt, aber auch um die Auswirkungen der Pandemie auf die religiösen Lebenswelten. Die Pandemie hat die Unfähigkeit vieler Religionsgemeinschaften offenbart, die Gläubigen bei der neuen und schmerzlichen Erfahrung einer gefährlichen, grenzenlosen Dimension der Globalisierung zu begleiten.
Franziskus machte in der Statio Orbis vom 27. März 2019 auf dem Petersplatz in der Sprache des Evangeliums "jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind".
Darüber hinaus hat die Enzyklika Fratelli tutti vor einem Jahr Gedanken über die Geschwisterlichkeit aller Menschen entwickelt, die ebenfalls vom Dialog des Papstes mit dem sunnitischen Groß-Imam Al-Tayyb ausgehen. Letzterer ist eine Persönlichkeit, die in der muslimischen Welt mit der Autorität von Al Azhar, der wichtigsten islamischen Universität, nicht nur eine solide Position gegen radikale Strömungen vertritt, sondern auch einen Weg der Angleichung des Islams an die globalen Dimensionen aufgezeigt hat. Das von ihm und Franziskus 2019 unterzeichnete Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für den Weltfrieden und das gemeinsame Zusammenleben ist eine breite und keineswegs selbstverständliche Plattform für die Begegnung und das Engagement der Gläubigen in globalen Weltszenarien. Der orthodoxe Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus, hatte aufgrund seiner Autorität jahrelang einen Diskurs über Religionen und Ökologie angestoßen, der bei mehreren Gelegenheiten von Vertretern verschiedener Religionen aufgegriffen wurde (von Papst Franziskus selbst in Laudato sì). Dies sind einige der Prozesse, die in der Welt der Gläubigen im Gange sind und von denen die Veranstaltungen und Treffen nur ein Ausschnitt darstellen.

Der kürzlich verstorbene Rabbiner Jonathan Sacks, eine bekannte Persönlichkeit des europäischen Judentums, hat in seinem letzten Buch das Problem des "kulturellen Klimawandels" aufgeworfen: die Krise des "Wir", die Aufdringlichkeit des "Ich", die Krise der Gemeinschaft auf allen Ebenen und der gemeinsamen Zugehörigkeit. Angesichts sozialer Missstände und humanökologischer Krisen sah Sacks die Religionen als wichtige Akteure an, "um das Gemeinwohl in Zeiten der Spaltung wiederherzustellen". Es ist dieser globale Humanismus, den die Religionen auf unterschiedliche Weise unseren Gesellschaften zu vermitteln scheinen: "Ein Land ist stark", schloss Sacks, "wenn es sich um die Schwachen kümmert ... es wird reich, wenn es sich um die Armen kümmert ... es wird unverwundbar, wenn es sich um die Leidenden kümmert". Dies ist das paradoxe Leben der Religionen, das eine Begrenzung und eine Überwindung der Banalität der Sprache, mit der wir über die Gegenwart und die Zukunft sprechen, zum Ausdruck bringt.


[Andrea Riccardi]