Italien/EU: Der Fall Aquarius ist „eine Niederlage der Politik“

Kirchenvertreter in Italien haben sich gegen die neue Linie der Regierung gewandt, Mittelmeerflüchtlingen den Zutritt zum Land zu verwehren. Italiens Innenminister und Lega-Sekretär Matteo Salvini hatte die Abweisung eines Rettungsschiffes als „erstes Signal“ für eine Wende in der italienischen Immigrationspolitik bezeichnet.

Die EU-Bischöfe fordern vor dem Hintergrund des Falls ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik der gesamten Staatengemeinschaft. Italien und Malta hatten das Rettungsboot „Aquarius“ mit über 600 Flüchtlingen nicht einlaufen lassen; das Schiff soll derweil im Hafen von Valencia anlegen dürfen. Mit Ankunft wird am Samstag gerechnet.

Erzbistum Valencia will Flüchtlingen helfen

Der Erzbischof der spanischen Hafenstadt, Kardinal Antonio Canizares, forderte angesichts des Streits um die Aufnahme der Migranten eine offenere europäische Flüchtlingspolitik. „Europa muss die Tore öffnen für jene, die nach Hilfe zum Überleben suchen", sagte er am Mittwoch. Zugleich bot er den Betroffenen auf dem Schiff, das sich zurzeit auf dem Weg nach Spanien befindet, Hilfe an. Man müsse diese Personen mit „großer Freundlichkeit und viel Liebe" empfangen, die Erzdiözese Valencia werde alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um zu helfen.

Canizares war 2015 landesweit zum Gegenstand einer Debatte geworden. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise hatte er damals von einer „Invasion der Einwanderer" gesprochen, die sich als „Trojanisches Pferd" erweisen könne. Dies brachte ihm Rücktrittsforderungen mehrerer spanischer Politiker ein. 

Europäische Solidarität auf dem Prüfstand

„Unschuldige aufs Meer zu verbannen, kann nie als politische Strategie verstanden werden, sondern bleibt unmissverständlich eine Verletzung der Menschenrechte, auf die wir antworten müssen“, kommentierte Pater Camillo Ripamonti, Präsident der kirchlichen Anlaufstelle für Flüchtlinge in Rom „Centro Astalli“, die Entscheidung von Innenminister Matteo Salvini. Mit Blick auf den Fall müsse die Frage der Solidarität in Europa „dringend“ thematisiert werden, unterstrich Pater Ripamonti im Interview mit Vatican News, jeder Mitgliedsstaat müsse „seiner eigenen Verantwortung nachkommen“.

Dass das Rettungsschiff der NGO „SOS Mediterranée“ mit 629 Migranten an Bord, darunter 134 Kinder und 7 schwangere Frauen, jetzt in Spanien einlaufen darf, begrüßte die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sie erinnerte an die 800 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge allein im Jahr 2018.

Niederlage der Politik

Kardinal Francesco Montenegro, der Erzbischof von Agrigent und Präsident der italienischen Caritas, bezeichnete den Fall Aquarius gegenüber der Presse als „Niederlage der Politik“. Europa müsse sich klar darüber werden, dass niemand die Migrationsbewegungen aufhalten könne. Es handle sich um ein epochales Problem, dass nicht gelöst werde, indem man die Türen verschließe und die Verantwortung ablehne, eine Lösung dafür zu finden.

Es sei jetzt an der Zeit, „Egoismen und Teilinteressen beiseite zu schieben. Man muss sich auf eine multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Welt vorbereiten, und nicht Türen und Fenster schließen“.

Die katholische Basisgemeinschaft Sant’Egidio richtete sich mit einem Aufruf an Italien, „jenen Prinzipien der Menschlichkeit treu zu bleiben, die in seiner Tradition verankert sind“. Dazu gehöre die Pflicht, gefährdete Menschenleben zu retten, der Italien in den letzten Jahren tausendfach auf dem Mittelmeer nachgekommen sei.

Kein Abrücken von der Menschlichkeit

Das große Phänomen der Immigration müsse „mit Weisheit“ angegangen werden, so Sant'Egidio-Sprecher-Roberto Zuccolini im Interview mit Vatican News. Es gebe „präzise Gründe“ dafür, warum diese Menschen ihre Heimatländer verließen, deshalb müsse auch über konkrete Lösungen nachgedacht werden. Als Beispiel nannte Zuccolini die Vergabe regulärer Arbeitsvisen für Migranten in der EU, etwa im Bereich der Altenpflege oder der Landwirtschaft.

Sant'Egidio organisiert in Zusammenarbeit mit dem Vatikan im Rahmen des Projektes der sog. „humanitären Korridore“ die legale Einreise von Kriegsflüchtlingen nach Italien und Frankreich.

EU-Bischöfe fordern Umdenken in der Flüchtlingspolitik

Den Ursachen der Migration nachzugehen, forderte auch der Präsident der EU-Bischofskommission COMECE. „Die Flüchtlingsfrage muss anders gestellt werden: Was können wir tun, damit keine Flüchtlinge mehr kommen?", sagte Erzbischof Jean-Claude Hollerich der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Mittwoch in Luxemburg. In der Flüchtlingspolitik sei ein Umdenken erforderlich, die Menschen hätten ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben in ihrer Heimat.

Natürlich müsse man Menschen aufnehmen, die in Not seien. „Aber die Frage ist, wer Schutz braucht und wer nicht." Wichtig sei, dass die Außengrenzen mit Respekt für die Menschenwürde gesichert würden.

Der Erzbischof von Luxemburg sagte zudem, Italien und Griechenland dürften mit den Flüchtlingen nicht alleingelassen werden. Im Konflikt mit den mittel- und osteuropäischen Ländern bei der Flüchtlingsumverteilung forderte er mehr Dialog. „Hier wäre es wichtig, mehr miteinander zu reden, ohne den anderen zu verurteilen", so Hollerich. Europa sei immer ein Resultat von Kompromissen gewesen. „Wenn man diesen Weg verlässt, dann wird die europäische Idee sehr geschwächt", so der COMECE-Präsident.

EU-Kommission: Dublin-System reformieren

Die EU-Kommission wertete die Auseinandersetzung um das an der Einfahrt in italienische Häfen gehinderte Flüchtlingsschiff „Aquarius“ derweil als weiteren Ansporn dafür, rasch den Streit über die Reform des europäischen Asyl-Regelwerks beizulegen. Innenkommissar Dimitris Avramopoulos forderte am Dienstag, den Grundsätzen von Solidarität und Verantwortung gerecht zu werden. Dazu gehöre neben einem wirksameren Schutz der EU-Außengrenzen und der Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsländern von Flüchtlingen auch eine Lastenteilung.

EU und Mitgliedstaaten dürften es nicht zulassen, dass der Streit um die Migrationspolitik eine „spalterische Angelegenheit“ werde, welche „die Zukunft unseres gemeinsames europäischen Hauses“ in Frage stelle, zitierte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Avramopoulos. Auch wenn er nicht bestritt, dass die EU-Verträge Mehrheitsbeschlüsse der Regierungen zur Asylpolitik vorsehen, sprach sich der Kommissar dafür aus, auf einen Konsens aller Staaten zu setzen. Mit den sogenannten Dublin-Regeln werden sich die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen Ende des Monats befassen.


[ Anne Preckel ]