Leitartikel von Andrea Riccardi im Corriere della Sera

Das Bündnis des Papstes für ein neues Europa

In von ethnischem und nationalistischem Denken geprägten Zeiten macht Franziskus den Vorschlag einer nicht-politisch-militärischen, sondern einer kulturellen, erzieherischen, philosophischen und religiösen Koalition für unseren Kontinent und für den Frieden

Im feierlichen Rahmen der Sala Regia im Vatikan (mit den Fresken, die an Zeiten religiöser Gewalt wie den Massakern an den Hugenotten in der Bartholomäusnacht erinnern) wurde Franziskus der renommierte Karlspreis verliehen. Der Papst liebt keine Preise. Er nutzte jedoch den Anlass, um über Europa zu sprechen und "gemeinsam einen neuen kräftigen Schwung" herbeizuwünschen. Gemeinsam mit wem? Die Reihe europäischer Führungspersönlichkeiten neben Merkel und Renzi war lang.

In der (länger als üblichen) Papstrede wurde zwei Punkte deutlich: gemeinsam und anregen. Die Feierlichkeit machte ein "Bündnis" für ein weiteres Europa mit größerer Tiefe deutlich. Die Dynamik der deutschen Botschafterin Schavan, einer Freundin der Bundeskanzlerin, und des bekannten Kardinals Kasper haben ein beispiellose Veranstaltung vorbereitet: der argentinische Papst hat Europa neuen Schwung verliehen (er sprach auch als Europäer). In von ethnischem und nationalistischem Denken geprägten Zeiten macht Franziskus den Vorschlag einer nicht-politisch-militärischen, sondern einer kulturellen, erzieherischen, philosophischen und religiösen Koalition für unseren Kontinent und für den Frieden; er sagte:  "Rüsten wir unsere Leute mit der Kultur des Dialogs und der Begegnung aus."

In der deutschen Botschaft hat Merkel den Vorschlag aufgegriffen und auf die Grenzen der Politik hingewiesen. Deutschland möchte nicht allein bleiben und braucht "Koalitionen" mit Kirche und Gesellschaft. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, beklagte die Aufsplitterung Europas: "Die zentrifugalen Kräfte der Krise neigen dazu, uns zu spalten…".
Für Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, bietet (im Unterschied zur Regierung von Warschau) die Kirche von Franziskus, "die wir alle brauchen", eine Lösung für die Krise. Der Papst war aufmerksam und ernst in einer Feier, die - auch in den Einzelheiten - nicht ihn sondern das Gemeinsame hervorhob. Das ist eine neue Funktion des Vatikans: Ort der Begegnung und spirituellen Koalition.

Franziskus hatte schon über Europa gesprochen, es als "Großmutter" bezeichnet und unfähig, etwas hervorzubringen und anziehend zu sein, daher baut es Mauern und Schützengräben. Der Argentinier hat als Sohn italienischer Immigranten den Kontinent mit Du angeredet: "Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?" Die Politiker haben im Papst einen spirituellen Führer entdeckt, der an die Union glaubt, falls sie fähig ist, sich auszuweiten und zu integrieren. Bei ihm findet sich nicht die Sorge von Benedikt XVI. über die Säkularisierung. Nach Meinung des Papstes ist Europa "aus der Begegnung von Zivilisationen und Völkern entstanden" und befindet sich heute im Verfall aus Angst vor der Begegnung mit anderen Völkern und Religionen, indem es sich hinter Grenzen und kristallisierten Identitäten versteckt.

Wer sich an den (verlorenen) Kampf der Kirche für die "christlichen Wurzeln" in der Europäischen Verfassung erinnert, erkennt, dass Franziskus eine andere Vorstellung hat: die europäischen Wurzeln (müssen seiner Überzeugung nach durch das Evangelium bewässert werden) und waren immer eine Synthese aus teilweise auch heterogenen Kulturen. Um den Wert einer "dynamischen und multikulturellen Identität" zu stärken, verwies der Papst auf die Gründerväter: De Gasperi (der sich mit dem Karlspreis beerdigen lies), Schuman, Adenauer und auch den Jesuiten und Theologen Eric Przywara, der gegen den Nationalsozialismus die Transnationalität des Christentums verteidigte. Um eine dauerhafte Integration zu erreichen, wird die Methode des Dialogs benötigt, die fähig ist, "das soziale Gefüge neu aufzubauen". Der Dialog ist Inhalt und Methode, um das zukünftige Europa aufzubauen. Er sagte vielleicht auch mit Blick auf "ethnisch" denkende Christen, die Angst vor einer Invasion haben: "Rüsten wir unsere Leute mit der Kultur des Dialogs und der Begegnung aus." Er distanzierte sich von angesichts der Flüchtlinge stotternden europäischen Bischofskonferenzen und anderer Kirchen, um über Integration zu sprechen. Umberto Eco betrachtete die Integration der Migranten als einen dauerhaften Verhandlungsprozess.

Franziskus hat über Jugendliche und Zukunft gesprochen. Er fordert eine soziale Wirtschaft, die für Jugendliche und Arbeit investiert, keine "verflüssigte" Wirtschaft. Dann betonte er eindringlich, dass Gott in Europa wohnen möchte, jedoch "Zeugen" und "große Glaubensboten" braucht. Das ist das große Problem des (schwachen) europäischen Christentums. Am Ende zeichnete er in poetischer Weise einen europäischen Traum, sein "I have a dream". "Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein… das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet... das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallsgegenständen herabgesetzt werden… wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen… die nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist; wo das Heiraten und der Kinderwunsch eine Verantwortung wie eine große Freude sind". Bergoglio glaubt daran, dass sich die Europäer und insbesondere die Jugendlichen nicht von Albträumen gefangen nehmen lassen, sondern wieder neu träumen. Sicher ein Europa der Väter, aber auch der Kinder.