Gebet zum Gedenken an die Reichspogromnacht, Santa Maria in Trastevere/Rom - 9.11.2023 - Meditation von Marco Impagliazzo zu Ez 47,1-2.8-9.12

Gebet zum Gedenken an die Reichspogromnacht

Santa Maria in Trastevere in Rom
9. November 2023

Meditation von Marco Impagliazzo zu Ez 47,1-2.8-9.12

Liebe Schwestern und Brüder,

ich begrüßen die Geschwister aus Pakistan und Indonesien, die hier in Europa sind zum Treffen mit dem Thema „Die Freude des Evangeliums in Asien“. Die Liturgie der Kirche schlägt uns heute vor, diesen sehr schönen Abschnitt aus dem Buch Ezechiel zu lesen, während sie an den Weihetag der Lateranbasilika erinnert, die Kathedrale von Rom, die „omnium ecclesiarium mater et caput“, die Sitz des Bischofs von Rom, des Papstes ist.

Heute ist dieses Fest auch ein großer Jahrestag, denn es ist der Beginn des 1700. Weihejahres, als sie von Papst Silvester im Beisein von Kaiser Konstantin im Jahr 324 geweiht wurde. Es ist eine großartige Geschichte dieser Basilika, die verschiedene Male aufgebaut und renoviert wurde, bis die heutige Kirche entstand. Es ist eine bedeutende Geschichte, in der das christliche Volk sich versammelt hat, die Liturgie feierte und auf das Wort Gottes hörte und sich als Volk zusammengefunden hat. In ihr haben fünf ökumenische Konzilien stattgefunden. An diesem Sitz der Kathedra Petri spüren die Christen die Verbundenheit mit dem Bischof von Rom, dem Papst. Hier erfährt man die besondere Berufung der Kirche von Rom, die dazu berufen ist, den Vorsitz in der Liebe einzunehmen.

Der Prophet Ezechiel spricht, wie wir gehört haben, von einem Tempel aus dem ein Wasser hervorquillt, und dieses Wasser heilt und schenkt wieder neues Leben. Es wird von vielen Fischen gesprochen, von einer Fülle von Früchten, von Blättern, die nicht welken und von heilenden Kräutern. Es ist ein Zeichen des Lebens und der Kraft und des Reichtums, alles befindet sich im Bereich dieses Tempels und dieses Wassers. Aus diesem Tempel quillt die Fülle des Lebens, das Leben voller Früchte. Das ist die Aufgabe eines jeden Tempels, eines jeden Gebetsortes, einer jeden Wallfahrtsstätte, sie sollen nämlich das Volk versammeln, sie sollen das Volk heilen, denn dort findet es die Quelle des lebendigen Wassers, eine Quelle die heilt und Leben schenkt. Der Tempel ist der Ort der Gemeinschaft, wo sich das Volk versammelt, dem Herrn begegnet und auf sein Wort hört, wie wir das in dieser Basilika jeden Abend tun.

Während wir an den Weihetag der Lateranbasilika denken, erinnert wir uns an so viel Leben, so viel Glauben, so viele Gebete, die in diesen Mauern Raum gefunden haben. Wie viele Gläubige haben hier Kraft und Hoffnung geschöpft.

Heute erinnern wir aber auch an ein dramatisches Ereignis, das die jüdischen Gemeinden in Deutschland und Österreich vor genau 85 Jahren heimsuchte in jener Nacht, die vielleicht auf etwas zu poetische Weise als Reichskristallnacht bezeichnet wurde, die jedoch wahrscheinlich eine der schlimmsten Pogromnächte gegen die Juden in Europa gewesen ist. Es ist besser, sie als Pogromnacht zu bezeichnen, weil der Begriff Kristallnacht wahrscheinlich von den Nazis verwendet wurde, um ihn auch für die Propaganda zu verwenden, diese Bezeichnung, die fast sogar auf paradoxe Weise als poetisch erscheinen könnte. In dieser schlimmen Nacht des Pogroms, die von Goebbels in der Nacht vom 9. auf den 10. November ausgerufen wurde, wurden tausende Fensterläden von jüdischen Geschäften und Fenster der Häuser von deutschen und österreichischen Juden zerstört. Auch die Kultstätten der Juden, die Synagogen wurden nicht verschont. Mehr als 260 Synagogen wurden in Deutschland und Österreich zerstört und über 1400 kleinere Gebetsstätten und Kultorte wurden schwer beschädigt. Die Hitlerjugend griff über 7000 jüdische Geschäfte an, Friedhöfe wurden geschändet und Wohnungen angegriffen und allein in jener Nacht wurden über 30.000 Personen in Konzentrationslager deportiert. Wir wissen, dass dieser Pogrom von langer Hand vorbereitet worden war, man hatte schon vorher die Konzentrationslager vergrößert, vor allem das von Buchenwald, um die Juden dorthin zu deportieren. Seit dem Frühjahr 1938 befanden sich die jüdischen Gemeinden nicht mehr unter dem Schutz des Staates. Sie waren keine Körperschaften des öffentlichen Rechts mehr. Seit 1935 wurden infolge der Rassengesetze von Nürnberg Judenlisten erstellt. Auf der Grundlage dieser Judenlisten wurden viele Juden in jener Nacht überfallen. Im Personalausweis mussten die männlichen Juden als zweiten Namen den Namen Israel tragen und bei weiblichen Personen wurde der Namen Sarah hinzugefügt und es wurde der Buchstabe "J" für Jude eingestempelt. Bei jeder Kontrolle konnte man sofort feststellen, ob eine Person Jude war oder nicht. Es war also eine lange und penible Vorbereitung, die zu dieser Tragödie führte. Es war schon eine jahrelange Verfolgung, die mit den Rassengesetzen von Nürnberg begonnen hatte. Obwohl es ein Einzelfall war, veränderte diese Nacht jedoch die Lage der jüdischen Gemeinden auf radikale Weise. Denn vorher stützte sich die Verfolgung auf eine zunehmende Diskriminierung. Seit dem Sonnenaufgang vom 10. November wurde sie mörderisch mit einer sprunghaften Zunahme des grausameren Charakters. Und dieser Pogrom von Goebbels war das Vorzimmer von einer noch wissenschaftlicheren Vernichtung.

Die Zerstörung der Kultorte beinhaltete den Willen, die Quelle des Glaubens dieser Gemeinden, dieses Volkes zum Versiegen zu bringen. Die Zerstörung des Tempels wollte das Volk zerstreuen und zugrunde richten. Die Tempel konnten nicht mehr ihre Funktion als Zusammenkunft der Gemeinde, des Volkes erfüllen. Und die Quelle des heilenden Wassers wurde absichtlich ausgetrocknet. Im Gedenken an diese Tragödie vereinen wir uns heute Abend noch mehr mit den jüdischen Gemeinden in Europa und auf der Welt, die in ihrer Geschichte diese tiefe Wunde tragen. Wir vereinen uns mit allen Glaubensgemeinschaften auf der Welt aus jeder Tradition, die Gewalt erleiden, gerade indem ihre Kultstätten angegriffen werden, die Orte des Volkes, die Orte des Glaubens, die Orte der Hoffnung, die Orte, an denen man Heilung findet. Und wir beten, dass sie niemals mehr von der Hand der Gewalttäter angegriffen werden, diese Orte, an denen die Männer und Frauen die Quelle des Glaubens finden, die das Leben in Fülle wachsen lässt, an denen sie viele Früchte für ihr Leben finden, an denen sie immer die grünen Bäume finden mit den Blättern, die wie eine Medizin sind für das Herz und das Leben der Menschen. Der Weihetag der Lateranbasilika, die so bedeutungsvoll für unsere Kirche von Rom ist, sei für uns immer auch eine Erinnerung daran, dass jede Kultstätte wie diese Basilika immer geliebt, behütet und besucht werden muss, denn hier fließt das Wasser aus der Quelle des Lebens, weil wir hier gemeinsam zum Herrn beten und auf sein Wort hören, hier feiern wir die Liturgie und versammeln uns jeden Tag als Volk Gottes und nicht als zerstreute Herde.