Die Universalität des Evangeliums bedeutet, bei den Kleinen und Armen anfangen, sie geschwisterlich und solidarisch einbeziehen. Homilie von Kardinal Gualtiero Bassetti zum 54. Jahrestag von Sant'Egidio

Homilie von Kardinal Gualtiero Bassetti anlässlich der Heiligen Messe zum 54-jährigen Bestehen der Gemeinschaft Sant'Egidio
Lateranbasilika des Hl. Johannes - 10. Februar 2022 (Mitschrift von www.santegidio.org)

Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Glauben Sie mir, ich fühle eine tiefe Ergriffenheit, wenn ich das Wort Gottes höre und es in dieser bedeutenden Kathedrale von Rom auch noch erklären darf. Besonders an diesem Abend, an dem die Gemeinschaft Sant'Egidio anwesend ist, erhält diese Erfahrung einen ganz besonderen Wert und eine besondere Bedeutung. Das Wort Gottes ist wirklich eine unerschöpfliche Quelle, die immer reich an Orientierung und Trost ist. Wir sind so sehr auf Trost angewiesen, vor allem in einer so schwierigen Zeit wie der jetzigen. Ich stehe dieser Liturgie in Erinnerung an die 54 Jahre der Gemeinschaft wahrhaftig und dankbar vor. Sie ist eine vornehme, nicht ältere, aber eine sehr reife Dame.

Ich grüße alle herzlich, ebenso wie die Freunde der Gemeinschaft, die hier versammelt sind, um zu feiern, und von denen ich viele seit Jahren kenne. Ich kann nicht umhin, den Gründer der Gemeinschaft, Professor Andrea Riccardi, und ihren Präsidenten, Professor Marco Impagliazzo, zu grüßen, den ich mehrmals in Perugia traf, als er Rektor der Universität für Ausländer war. Und wie könnten wir Monsignore Vincenzo Paglia vergessen, dessen pastoralen Eifer wir alle kennen. Ich grüße auch brüderlich die hier anwesenden Kardinäle, Kardinal Matteo Zuppi, Erzbischof von Bologna, zusammen mit dem lieben Kardinal Giovanbattista Re, mit dem wir 1977 in Florenz zusammentrafen, als er kam, um den damals neuen Erzbischof von Florenz, Kardinelli Giovanni Benelli, einzuführen. Ich begrüße Kardinal Turkson und alle hier anwesenden Bischöfe und auch die hier anwesenden Delegierten der Schwesterkirchen, ich grüße sie mit großem Respekt. Ich grüße alle anwesenden Behörden, zivile, militärische, staatliche Vertreter. Meine Umarmung geht heute Abend an diese große Gemeinschaft. Leider haben wir uns in diesen zwei Jahren der Pandemie an kleine Gemeinschaften gewöhnt, wenn wir feiern, aber dass die Lateranbasilika fast voll ist, ist sicherlich ein Trost für mich und, wie ich glaube, auch für Euch.

Wenn ich Euch anschaue, spüre ich, wie sich in mir ein Bild der Universalität regt, nicht nur aus internationalen Gründen, sondern vor allem in der Sicht des Evangeliums. Euer Engagement, liebe Brüder und Schwestern von Sant'Egidio, für Gerechtigkeit und Frieden ist wohlbekannt. Eure Universalität spiegelt sich in der des Evangeliums wider: bei den Kleinen und Armen anfangen, sie in die Geschwisterlichkeit und Solidarität einbeziehen. Wie ich einmal in Perugia bei der Vorstellung eines Buches von Andrea Riccardi gesagt habe: "Ihr habt euch dem Unsichtbaren genähert, und das hat euch sichtbar gemacht", gerade wegen dieser Entscheidung, die ihr getroffen habt. Ihr wart und seid Freunde der Armen in Rom, in den Vorstädten, auf den Straßen, wo es obdachlose Frauen und Männer gibt, oder alte Menschen, die allein sind. Ich habe auch viele davon in Perugia.
Der Prophet Jesaja sagt über Jerusalem: "Viele Völker werden zu dir kommen". Die ersten, die dorthin strömen, sind die Armen und die Unsichtbaren. Das sind Eure Freunde fürs Leben. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich fast zufällig Euer Zentrum in Rom, in San Gallicano in Trastevere, besuchte: Menschen aller Art, Italiener und Einwanderer, Roma, Bedürftige, ältere Menschen... Alle wurden freundlich aufgenommen und angehört. Es war, als hätten sich die Menschen gegenseitig gesagt: Lasst uns dorthin gehen, denn wenigstens einer nimmt uns auf! Jesaja sagt: "Kommt, lasst uns ziehen zum Berg des Herrn...". Der Berg des Herrn ist in der Tat nicht weit entfernt, sondern es ist dort, von wo das Wort des Herrn "hervorkommt", wo die Wege der Aufnahme, der Freundschaft, der Fürsorge für andere erfahren werden. Wie sehr betont der Heilige Vater die Sorge um den anderen. Es gibt ihn wirklich, den Berg des Herrn.
Ihr habt Euch auch das Volk zu Herzen genommen, das sich aus Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt, die in dieser schwierigen Welt keine Heimat haben: das Volk der Flüchtlinge und Einwanderer. Mit den humanitären Korridoren habt Ihr Brücken gebaut, wo es Mauern und Stacheldraht gibt. Die humanitären Korridore, die in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und mit Unterstützung des Innenministeriums eingerichtet wurden, sind aus Eurem Wunsch entstanden, die Türen nicht zu verschließen und eine offene Gesellschaft zu schaffen. Sie entstehen aus der Sorge um diejenigen, die weit weg sind, oft in der Stille der Lager ignoriert oder verlassen werden. Wer hört auf ihr schwaches Geschrei?
Viele sind in die Gemeinschaft Sant'Egidio geströmt, sprechen verschiedene Sprachen und suchen ein Zuhause. Keiner von uns kann Wunder vollbringen, aber ich muss sagen, dass Ihr versucht habt, wo Ihr konntet, eine Lösung für alle zu finden. Viele in unserem Land integrierte Menschen können dies bezeugen.
Viele sind aus fernen, vom Krieg zerrissenen Ländern gekommen, um durch Dialog einen Weg zum Frieden zu finden. Heute haben wir uns zu dieser Mittelmeerkonferenz getroffen, die wir in Florenz abhalten werden, und es gibt durchaus Hoffnungsschimmer. Und gerade deshalb muss jeder in dem Bereich, in dem wir arbeiten sollen, die Hoffnung fördern.
Ich denke an die Mosambikaner, die vor Jahren auf der Suche nach Frieden waren, an andere afrikanische Völker, für die Ihr Euch mit dem Frieden als einzigem Interesse eingesetzt haben, in einer internationalen politischen Welt, in der dies keine Priorität zu sein scheint. Wie Papst Franziskus in seiner Rede "Fratelli tutti" betonte: "Der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen, erscheint wie eine Utopie aus einer anderen Zeit". Gott sei Dank ist es Ihnen gelungen, den Traum vom Frieden so weit wie möglich am Leben zu erhalten, nicht nur mit Worten - denn es gibt so viele Worte - sondern mit Taten!
Dieser Traum muss immer möglich sein! Wo immer der Herr ist (und er ist in der Geschichte präsent), ist Frieden möglich. Der Prophet versichert dies einem Volk, das angesichts beunruhigender und unvorhersehbarer internationaler Entwicklungen voller Angst ist: "Und sie", sagt Jesaja, "werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Winzermesser machen; ein Volk wird nicht mehr sein Schwert gegen das andere erheben, und sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Es scheint ein unerreichbarer Horizont zu sein: In der Tat haben wir leider aufgehört und nicht mehr den Mut, vom Frieden zu träumen. Und doch entfacht das Wort Gottes diesen Traum in uns. Ich erinnere mich an Giorgio La Pira, den ich als Kind im Seminar in Florenz kennengelernt habe und der mir sehr ans Herz gewachsen ist, und von dem diese Konferenz in Florenz ausgegangen ist, der am Ende einer seiner herzlichen Botschaften schrieb: "Träume ich? Nein. Der unaufhaltsame Weg der Geschichte der Kirche - von Christus! ". Ich möchte diese Geschichte miterleben.
Ich finde bei Euch den Traum, den La Pira genährt hat, aber auch den Sinn für das Konkrete, den er selbst hatte, indem er die einzige Waffe von uns Gläubigen einsetzte: die Freundschaft, die verbindet, und die konkrete Sorge um die anderen. "Die Freunde des Herrn sind die Freunde der Männer und Frauen, der Völker", sagte La Pira. Und der Herr sagte uns heute Abend: "Ich habe euch alles kundgetan, was ich von meinem Vater gehört habe". Wir sind keine Diener von irgendjemandem, von technischen Instrumenten, sondern wir leben die Freundschaft als einen Dienst an der Menschheit. Wir sind frei, Brüder und Schwestern, wenn wir Freunde von allen sein wollen, dann sind wir frei.
Zur Zeit des Kalten Krieges hatte La Pira, der von vielen kritisiert und belächelt wurde, eine unaufhaltsame Bewegung in der Geschichte wahrgenommen, die sich von den Pessimisten und Kriegstreibern absetzte: eine "einheitsstiftende Bewegung", die in der, wie er es nannte, "Geographie der Tiefe" pulsiert und auf Begegnung, Frieden und Einheit drängt. Es ist die einheitliche Bewegung der Völker, die sich auf Jerusalem zubewegt! Wir sind nicht zum Unverständnis, zur Konfrontation, zur Mauer oder zum Krieg verurteilt.
Der Bürgermeister von Florenz schrieb an Paul VI: "Ein Traum? Wir haben so viele gesehen! Warum konnten wir diese Tatsache, die für den Frieden in der Welt und den Beginn einer neuen historischen Epoche für die Kirche und die Völker so wichtig ist, nicht auch erkennen? Kann der Herr nicht auch dieses Wunder bewirken?".
Wir sind keine improvisierten Träumer, sondern Menschen des Glaubens, die handeln und beten. Ich möchte mich damit beschäftigen, denn der Glaube versetzt Berge. Das Gebet und das Hören auf das Wort Gottes sind entscheidend für Eure Gemeinschaft, die sich an so vielen Orten der Welt, ausgehend von der Basilika Santa Maria in Trastevere, abends zum Gebet trifft. Das, Brüder und Schwestern, ist eure Stärke. Auch ich habe in Perugia eine Kirche für Sant'Egidio, für Euer Gebet bereit gestellt. Beten heißt "in ihm wohnen": "Wer nicht in mir wohnt", sagt Jesus, "der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt; diese Reben werden gesammelt, ins Feuer geworfen und verbrannt".
Das Gebet ist unsere Stärke, denn der Herr hört uns mehr zu, als wir denken, er ist der Gott des Unmöglichen. Er hat uns gesagt: "Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen".
Die Stärke des Bürgermeisters von Florenz war das Gebet und das Hinterfragen der Geschichte im Licht des Wortes Gottes, im Licht seiner Lehre. Ich hoffe, dass diese Dinge, die wir gesät haben, auch in unserem Engagement weitergeführt werden können.

Liebe Brüder und Schwestern,
ich möchte Euch im Namen unserer italienischen Kirche für alles danken, was Ihr seid und was Ihr tut. Genauso wie ich all jenen danke, die Eure Arbeit auf so vielfältige Weise unterstützen. Ihr seid beseelt von dem Traum, dass ein Jerusalem des Friedens auch auf dieser Erde möglich ist. Gebt niemals auf, diesen Traum zu kultivieren; gebt niemals der Resignation nach!
Als Vorsitzender der italienischen Bischöfe, aber auch als älterer Bischof unseres Landes - ich bin in den Achtzigern - weiß ich um all das Gute, das Ihr getan habt, aber auch um das Gute, das Ihr gemeinsam mit so vielen Männern und Frauen guten Willens noch tun könnt und wollt. Nur Mut! Nicht nur die Kirche, sondern auch Italien und andere Länder warten auf Euer Engagement. Habt keine Angst! Und in Zeiten der Angst mögen Ihnen die Worte Jesu helfen: "Nicht ihr habt mich auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt, damit, was immer ihr den Vater in meinem Namen bittet, er es euch gebe". Brüder, er hat uns auserwählt, und er wird uns erhören in allem, was wir von ihm erbitten. Das ist für uns alle der größte Trost!