Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, eine neue Geschichte begann. Das Ereignis von Berlin vor 30 Jahren hat die Welt verändert

FAMIGLIA CRISTIANA

Der Tropfen, der damals im November 1989 den Kommunismus zum Überlaufen brachte, war die Frage des damaligen Korrespondenten von ANSA, Riccardo Ehrman, der damals 59 Jahre alt war. Der Verantwortliche der DDR für die Beziehungen zur Presse, Günter Schabowski, las vor einer großen Schar von müden Journalisten bei einer Liveübertragung das gewöhnliche Bulletin vor, dass die letzten Errungenschaften des realen Sozialismus pries.

Ehrmann war jedoch einen seltsamer Satz aufgefallen ("vielleicht haben wir in der Vergangenheit einige Fehler gemacht"). Als er an der Reihe war, fragte er, ob nicht auch das neue Gesetz über Reisegenehmigungen ein solcher Fehler sei. Schabowski antwortete, dass keine Visa und kein Pass mehr nötig seinen, die damals mehr oder weniger unmöglich zu bekommen waren. "Ab wann?", frage der italienische Journalist nach. "Ab sofort", antwortete der Funktionär und las das Redemanuskript vor. Das war der Hammerschlag, der die Berliner Mauer zum Einsturz brachte. Millionen Deutsche aus dem Osten eilten an die Grenzen und zur Grenze aus Zement, um sie noch am selben Abend einzureißen. Die beiden Deutschland waren eins geworden. Die Geschichte bewegte sich von Osten nach Westen in einem Freudenfest der Völker. "Das Blatt Papier war vom damaligen DDR-Staatsoberhaupt Honecker diktiert worden", sagt Agostino Giovagnoli, Dozent für Zeitgeschichte an der katholischen Universität von Mailand."Es beweist, dass der Widerstandswille der Nomenklatur des Regimes geschwunden war. Die Deutschen im Osten verstanden, dass sie die Reisefreiheit in den Westen besaßen und die getrennten Geschwister im anderen Teil Deutschlands besuchen konnten. Es war einer jener Fälle, in dem die Geschichte in direkter Weise sichtbar wurde und live im Fernsehen zu sehen war. Wenn die Geschichte vorüberkommt, kann man sie nicht aufhalten. Der Kommunismus brach zusammen, und wir erlebten das hautnah mit."

Wie kam es zur Berliner Mauer?
"Paradoxerweise, um den Krieg zu vermeiden. Die Auseinandersetzung der beiden Welten hatte einen Siedepunkt erreicht, und daher wurde symbolisch die Grundlage geschaffen, um die beiden Seiten voneinander zu trennen. Die beiden Welten vermieden den militärischen Konflikt und akzeptierten sich gegenseitig in derselben Logik eines Gleichgewichts des Schreckens auf der Grundlage von Atomwaffen, sodass Krieg vermieden wurde, zugleich aber kein Friede herrschte, jedoch die beiden Blöcke nebeneinander existieren konnten."

Das Paradoxe an der Geschichte liegt darin, dass nach dem Fall der Berliner Mauer andere überall auf der Welt entstanden sind: in Palästina, Mexiko, Ungarn, an der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien. Auch die geschlossenen Häfen können als errichtete Mauern angesehen werden...
"Es stimmt genau. Doch es sind andere Mauern. Die Berliner Mauer wollte die Menschen innen festhalten und nicht hinauslassen, sie war eine physische Grenze, aber auch ideologisch und politisch, würde ich sagen, sie war die Welt aus der Sicht des kommunistischen Bunkers. Heute gibt es die Mauern der Globalisierung, die Regierungen errichten, damit die Armen nicht hereinkommen, die an die Türen klopfen und ein würdigeres Leben suchen. Sie müssen Privilegien der Wohlhabenden verteidigen und auch die Armen, die Angst vor noch größerem Elend haben."

Das Ende des Kommunismus wurde durch den Sieg der demokratischen und liberalen Werte des Westen errungen?
"Das Ende des Kommunismus ist nicht dem Sieg von gegensätzlichen Ideologien geschuldet. Der sowjetische Block zerfiel durch die Prozesse der Globalisierung, die vor allem in industrialisierten Ländern die Ungleichheiten vergrößert haben."

Was waren das für Prozesse?
"Seit den 70er Jahren, nach Vietnam, nach der Angleichung von Gold-Dollar und dem Schock der Ölkrise durch den Jom-Kippur-Krieg hat sich die Weltwirtschaft vollkommen neu strukturiert, es begann ein Prozess der Schwächung der Staaten und der Institutionen. Die Gesetze des Marktes bestimmen heute die der Politik. Das erste Opfer war der sowjetische Block, der im Wettbewerb in einem überalterten Wirtschaftssystem nicht standhalten und die Stoßkraft einer sehr wehrhaften und erbarmungslosen Dynamik eines gewissen wilden Kapitalismus nicht widerstehen konnte, die von großen Weltkonzernen ausgelöst wird und sich von denen eines gemäßigten Welfare-Kapitalismus unterscheidet."

Welche Rolle spielten der damalige amerikanische Präsident Reagan und der Generalsekretär der KPdSU Gorbatschow?
"Die Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigsten Staaten war noch ein Kräftemessen. Reagan setzte auf Aufrüstung, auf das berühmte "Weltraumschild". Auch der Kremel setzte auf die Stationierung von sowjetischen Raketen in Osteuropa. Die wahre Partie wurde auf wirtschaftlichem Feld ausgetragen. Gorbatschow merkte sofort, dass das sowjetische System vor dem Zusammenbruch stand. Er handelte demzufolge: seine Perestroika war fast ein von der Verzweiflung vorgeschriebener Schritt."

Welche Rolle hat Papst Wojtyla beim Mauerfall gespielt?
"Wojtyla hat eine wesentliche Rolle gespielt, angefangen von seinem Polen. Seine Wahl wurde von den sowjetischen Machthabern sofort als eine sehr große Gefahr aufgefasst. Doch paradoxerweise hat er eine bremsende Funktion ausgeübt. Wir besitzen viele Zeugnisse und Dokumente, die von vielen Personen von Solidarnosc berichten, die nach Rom kamen, um mit dem Papst zu sprechen. Sie sagte, man müsse eine Revolte beginnen und die polnische Nomenklatur auch mit dem Einsatz der Stärke stürzen. Doch Johannes Paul II. hat immer Nein gesagt. Er hat Solidarnosc immer sehr unterstützt, aber er war dagegen, sie in eine Partei umzuwandeln, er wollte, dass sie eine Vertreterin der Zivilgesellschaft bleibt, denn eine Umwandlung wäre für das Regime nicht hinnehmbar gewesen und hätte zum Bürgerkrieg oder zur Repression geführt. Die erste Revolte musste im Bewusstsein stattfinden. Die Polen waren resigniert. Zunächst musste die Hoffnung genährt werden, das heißt, nicht zu den Waffen zu greifen. Johannes Paul II. hat wesentlich in diesem Bereich gewirkt. Polen war ein sehr wichtiger Pfeiler im sowjetischen Block. Seine Reisen, die Ostpolitik von Staatssekretär Agostino Casaroli, sein Wirken, um das Bewusstsein zu sensibilisieren, die Rückkehr der Hoffnung - all das hat das Regime von Jaruzelski von innen her geschwächt und zum friedlichen Zusammenbruch geführt."

Was bedeutete der berühmte Satz von Kennedy "Ich bin ein Berliner"?
"Ich bin ein Berliner - bedeutet, dass ich mich für euer Leid verantwortlich fühle, ich mache es mir zueigen. Das ist die wahre Grundlage für die Demokratie: die Inklusion. Wenn ich mcih in die Lage des anderen versetze und ihn nicht im Stich lassen, sondern Anteil nehme an seinem Schicksal. Das war auch Rhetorik, denn Kennedy akzeptierte die Logik des Kalten Krieges, aber sein Grundsatz war, dass in der Welt am Ende die Solidarität siegt."
(Francesco Anfossi)