Am Abend des 3. Juni 1963 entschlief Johannes XXIII. Fünfzig Jahre sind seit diesem Tag vergangen, doch der „gute Papst“ bleibt auch denen in Erinnerung, die ihn nie kennenlernten (und das sind die meisten). Er stand für eine Wende, nahm Abstand vom Pessimismus, der den Katholizismus der vorherigen zwei Jahrhunderte überwiegend geprägt hatte. Der Pessimismus war verständlich, weil sich die Geschichte von der Kirche zu entfernen schien und eine Gesellschaft mit einem an den Rand gedrängten Gott aufbaute... Dieser Pessimismus wurde durch die Nostalgie nach einem nunmehr vergangenen goldenen Zeitalter des Christentums genährt, während sich die Gegenwart mit dem Niedergang auseinandersetzen musste. Den nostalgischen Schwarzsehern der dreißiger Jahre entgegnete der französische Philosoph Etienne Gilson, dass der Gedanke eine Illusion sei, „das Christentum als einer dauerhaften religiösen Revolution im Herzen der Welt würde zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer ‚vollendeten’ Revolution“. Es gibt kein goldenes Zeitalter, dem nachzutrauern ist.
Johannes XXIII. lebte in einer schwierigen Zeit. Osteuropa war fest im Griff kommunistischer Regime, und die dortigen Kirchen waren außer in Polen dem Untergang nahe. Der Kolonialismus war vorüber. Die 60er Jahre wurden Jahre der Unabhängigkeit. Die Kirche sah sich einem neuen Szenario gegenübergestellt. Neben Lefebvre empfahlen Traditionalisten die Verteidigung der Kolonialregime, da das Überleben der Kirche angeblich von ihnen abhing und sie ein Damm gegen Kommunismus und Islam darstellen würden. Ansonsten sei das Ende des Christentums gekommen. Papst Johannes widersprach lautstark „den Unglückspropheten“ und Nostalgikern einer Vergangenheit, deren leidvolle Züge Roncalli als Historiker genau kannte. Er tat dies feierlich bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Kirchengeschichte schlug einen anderen Weg ein. Der Pessimismus ist manchmal ein Schutzwall gegen eine Welt, deren Komplexität nur schwer zu begegnen ist. Er wird zum unsympathischen Schleier. Auch in Zeiten des kalten Krieges betrachtete Papst Johannes Menschen und Völker mit „Sympathie“. Er tat es, indem er auf unterschiedliche Weise mit „Barmherzigkeit“ auftrat als wesentlicher Charakterzug im Leben der Kirche. Diese Entscheidung könnte nebensächlich erscheinen, doch sie wurde wegweisend für das vergangene halbe Jahrhundert des Katholizismus.
Hat sich eine so langandauernde Entscheidung gelohnt? Paul VI. hat sie zum Interpretationsschlüssel des Konzils gemacht und formulierte dies am Ende: „Was ist geschehen? Eine Auseinandersetzung, ein Kampf, ein Anathema? Es hätte sein können, doch es geschah nicht... Ein unbeschreibliche Sympathie hat alles durchdrungen. Die Entdeckung der menschlichen Bedürfnisse“. Abraham Heschel, ein Experte für die Botschaft der Propheten, spricht von einer „Religion der Sympathie“ im Sinn eines Pathos für jemanden.
Die „Naivität“ von Papst Johannes wurde als Nachgiebigkeit kritisiert. Nach dem Konzil kamen schwierige Zeiten auf die Kirche zu: innere Spaltungen, Krisen, Abnahme der Gottesdienstbesucher, Druck durch eine zunehmende Säkularisierung... Der Konzilsfrühling erschien als ein Winter im Vergleich zu früheren Zeiten. Nüchtern kommentierte der evangelische Theologe Karl Barth, dass das Christentum „im Haus anderer zur Miete wohnt“. Die Krise ist der Boden, auf dem die Kirche lebt. Doch sie ist nicht das Ende. Obwohl er sich von seinem Vorgänger unterschied, war er Johannes XXIII. dankbar, denn in Jahren der Verzweiflung glaubte er an die Zukunft des polnischen Katholizismus trotz der äußerst bedrängten geopolitischen Lage. Sympathie bedeutet nicht nachgiebige Naivität, sondern birgt das Verständnis dafür in sich, dass mehr vereint als trennt, um es mit Worten von Papst Johannes zu beschreiben.
Die Chiffre von Sympathie und Hoffnung bleiben mit unterschiedlichen Ausformungen prägend für das vergangene halbe Jahrhundert. Das gilt heute auch in einem Europa, das sich mit seinem Bedeutungsverlust auseinandersetzt und der schwächste Teil des Westens ist.
Auch in dieser Hinsicht hat die Kirche mit Sympathie sprechen wollen und sich nicht im Pessimismus verschlossen. Heute tut sie es durch die Worte von Franziskus, dem ersten Papst der Geschichte, der nicht aus Europa oder dem Mittelmeerraum kommt, sondern aus Lateinamerika. Manche sehen in ihm einen neuen Papst Johannes. Vergleiche sind schwierig, doch es gibt eine Verbindung zum vom Konzil verbreiteten Gefühl, wie man es am sympathischen Umgang mit den Menschen und seinem Zukunftsblick erkennen kann. Von Anfang an hat er mit aller Deutlichkeit zu den Kardinälen gesagt: „Lassen wir uns nie vom Pessimismus überwältigen, von dieser Verbitterung, die der Teufel uns täglich einreden will. Lassen wir uns nicht von Pessimismus und Entmutigung überwältigen“. Vielleicht fällt es noch schwer, die Auswirkungen dieser Botschaft einzuschätzen, die mehr tiefe Strömungen in Bewegung setzt, als Schlagzeilen zu prägen. Es ist ähnlich wie bei den Strömungen, die damals Papst Johannes in Bewegung setzte.